Tag & Nacht


Es ist still geworden in Antibes. Zu still. Wo einst das Kreischen von Kindern und das Echo spritzender Flossen durch die Becken hallte, hört man heute nur das leise Schlagen von Wellen gegen Beton. Hinter den geschlossenen Toren von Marineland warten zwei Orkas und zwölf Delfine auf etwas, das für sie längst überfällig ist: Rettung.

„La situation est critique pour les animaux“, schreibt der Park in einem offenen Brief – und selten klang ein Satz so schwer. Kritisch heißt in diesem Fall: Leben und Tod. Denn die einst glitzernden Becken sind marode, die Risse im Beton werden größer, das Wasser trüber. Ein kleines Erdbeben – und alles wäre vorbei.

Die Pfleger kämpfen seit Monaten mit dem, was man wohl nur noch Verzweiflung nennen kann. Sie sehen ihre Tiere jeden Tag – die Orkas Inouk und Wikie, die seit Jahrzehnten zwischen Glaswänden kreisen, die Delfine, die sich apathisch im Kreis drehen. Sie wissen: Diese Tiere spüren, dass etwas nicht stimmt. Dass ihre Welt zerbricht. Und dass niemand kommt.

Frankreich zögert. Spanien zögert. Währenddessen schwimmen fühlende Wesen in einem bröckelnden Becken, in einer Zone mit seismischer Aktivität. Man kann sich die Szene kaum vorstellen, ohne dass einem das Herz bricht.

Wie kann es sein, dass in einem Land, das sich den Tierschutz auf die Fahnen schreibt, eine solch dringende Situation zur bürokratischen Farce verkommt? Akten liegen in Schubladen, Anträge warten auf Stempel – während Lebewesen in Betonbecken um ihr Dasein kreisen.

Marineland, einst Symbol menschlicher Kontrolle über die Natur, ist heute Sinnbild menschlicher Ohnmacht. Und doch – ausgerechnet der Park selbst ruft jetzt um Hilfe. Er, der jahrelang von Shows lebte, in denen Orkas und Delfine Kunststücke für Applaus vollführten, bittet nun um einen Akt der Menschlichkeit. Ein bitteres Paradox.

Aber vielleicht liegt in dieser Wende auch ein Funken Hoffnung. Vielleicht ist es genau dieser Moment, in dem wir begreifen, dass es nie nur um Tiere in Gefangenschaft ging, sondern um unser Verhältnis zur Natur insgesamt.

Denn die Orkas und Delfine von Antibes sind nicht einfach „Attraktionen“. Sie sind Botschafter einer Welt, die wir zu oft ignorieren – bis sie bricht.

Das Gesetz von 2021, das Delfin- und Orca-Shows ab 2026 verbietet, war ein Meilenstein. Aber was nützt ein gutes Gesetz, wenn es seine Opfer in der Übergangszeit vergisst? Die Tiere müssen jetzt umgesiedelt werden – nicht in einem Jahr, nicht nach weiteren Sitzungen, sondern sofort.

Spanische Wissenschaftler haben längst signalisiert, dass sie bereit wären, die Tiere aufzunehmen. Alles, was fehlt, ist ein offizielles Wort aus Paris. Ein Telefonat, ein Beschluss, eine Entscheidung. Mehr braucht es nicht, um Leben zu retten.

Und man fragt sich: Wie viele Briefe, wie viele Appelle braucht es noch, bis jemand in der Regierung versteht, dass jede weitere Woche Stillstand eine Qual bedeutet?

Marineland ist zu einem Mahnmal geworden. Für unsere Trägheit. Für das Scheitern von Verwaltung, wenn Menschlichkeit gefragt wäre. Und für die Frage, die uns alle betrifft: Wie weit darf Bürokratie gehen, wenn Leben auf dem Spiel steht?

Inouk, der ältere der beiden Orkas, ist 25 Jahre alt. In freier Wildbahn hätte er vielleicht noch Jahrzehnte vor sich. In Antibes schwimmt er im Kreis. Er wartet auf Rettung – und mit ihm ein Stück unserer eigenen Verantwortung.

Frankreich muss jetzt handeln. Nicht irgendwann. Jetzt.
Weil Menschlichkeit nicht in Formularen steht. Sondern in Entscheidungen, die Leben retten.

Ein Kommentar von Andreas M. Brucker

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