Tag & Nacht




Es gibt Momente in der Politik, die sich anfühlen wie ein Stich ins Herz der Erinnerung. Der Empfang von Ahmed al-Charaa, ehemals bekannt als Abu Mohammed al-Jolani, durch Emmanuel Macron im Élysée gehört dazu. Ein Akt von historischer Tragweite – nicht, weil er Hoffnung säte, sondern weil er schmerzhafte Fragen aufreißt.

Wessen Hände berührt Frankreich da? Und was wird dabei stillschweigend mitgewaschen?

Al-Charaa führte einst eine Gruppierung an, deren Name für viele Syrerinnen und Syrer gleichbedeutend ist mit Angst, Gewalt und Vertreibung. Hayat Tahrir al-Sham – HTS – wurde weltweit als terroristische Organisation eingestuft. Ihr Vorgehen in Städten wie Aleppo hat Spuren hinterlassen, tiefe Wunden, die sich nicht mit einem diplomatischen Lächeln schließen lassen.

Natürlich: Die Welt der Diplomatie kennt keine makellosen Partner. Jeder Staatsbesuch, jedes Treffen auf Augenhöhe ist durchzogen von Grautönen. Doch es gibt einen Unterschied zwischen Pragmatismus und Prinzipienverrat.

Macrons Entscheidung wirkt wie ein diplomatischer Drahtseilakt – aber ohne Netz.

Die Idee dahinter ist wohl, sich in einem Syrien nach dem Krieg neu zu positionieren, Einfluss zu sichern, Stabilität mitzugestalten. Doch um welchen Preis? Frankreich hat sich in der Vergangenheit gern als Hüterin der Menschenrechte inszeniert. Dieser Empfang lässt diese Haltung wie eine wohlklingende, aber längst verstaubte Floskel erscheinen.

Ein Land, das stolz auf seine Werte ist, darf diese nicht aus politischem Kalkül über Bord werfen – sonst verliert es seine Glaubwürdigkeit.

Stellen wir uns vor, wie sich die Jesiden fühlen, die Christen, die gemäßigten Muslime, deren Angehörige durch HTS unterdrückt, verfolgt, getötet wurden. Was bedeutet es für sie, wenn der Mann, der all das mitverantwortet hat, nun in Paris Champagner trinkt?

Das ist kein diplomatischer Neuanfang – das ist ein Faustschlag für die Opfer.

Ja, vielleicht hat sich al-Charaa gewandelt. Vielleicht verfolgt er nun andere Ziele. Vielleicht ist er tatsächlich ein Baustein für ein neues Syrien. Aber sollte so jemand nicht erst Rechenschaft ablegen, bevor er auf roten Teppichen empfangen wird?

Vergebung setzt Erinnerung voraus – und Gerechtigkeit.

Wird diese Vergangenheit wirklich aufgearbeitet? Oder verdrängt man sie einfach, weil sie unbequem ist? Die französische Politik täte gut daran, sich diesen Fragen ehrlich zu stellen. Sonst läuft sie Gefahr, ihre moralische Integrität dem kurzfristigen geopolitischen Vorteil zu opfern.

Der Besuch von al-Charaa mag eine neue Ära einläuten – aber was für eine? Eine, in der internationale Anerkennung nicht mehr an Taten, sondern nur noch an Macht geknüpft ist?

Macron selbst sprach einst davon, dass Frankreich „eine Stimme für die Stimmlosen“ sein wolle. Dieser Handschlag – mit einem Mann, der für viele der Inbegriff der Gewalt ist – spricht eine andere Sprache.

Vielleicht ist genau das das Bitterste an dieser ganzen Geschichte: dass Politik manchmal so tut, als würde sie Brücken bauen, dabei aber Gräben vertieft.

Von Catherine H.

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