Es gibt Momente, in denen ein Land sich in den Spiegel blicken muss – und was Frankreich jetzt sieht, ist erschütternd. Eine 31-jährige Frau, engagiert, hingebungsvoll, wurde in einem Schulflur von einem Kind erstochen. Nicht in einem Kriegsgebiet. Nicht auf offener Straße bei Nacht. Sondern am helllichten Tag, in einem Raum, der eigentlich Schutz und Bildung versprechen sollte: einer Schule.
Und was tut die Republik? Sie zählt Messerarten. Sie spricht von Detektoren an Eingangstüren. Und sie vergießt Tränen, die – so scheint es – längst zur Routine geworden sind. Frankreich, wie gehst du mit deinen Schülern um? Wie konnte ein 14-jähriger Junge zum Messer greifen, als sei das ein reflexartiger Akt der Wut? Was haben wir versäumt, dass Kinder glauben, ein Küchenmesser sei ein legitimes Werkzeug zur Lösung eines Konflikts?
Man kann und darf über Verbote sprechen. Man kann über Sicherheit diskutieren. Aber was wirklich ohrenbetäubend laut durch diesen Mord schreit, ist: Ihr habt eure Kinder verloren. Nicht im juristischen Sinne – sondern im menschlichen. Was bleibt von einer Nation, wenn ihre Kinder zu Tätern werden und ihre Schulen zu Schauplätzen von Gewalt?
Die politische Klasse wirkt hilflos. Der neue Premierminister Bayrou wirkt bemüht, er will entschlossen wirken – aber seine Vorschläge sind reflexhaft, beinahe mechanisch. Detektorschleusen an den Toren, als würde man Flughäfen aus Schulen machen. Aber was ist mit den Klassenzimmern? Den Lehrerzimmern? Den Herzen? Frankreich hat ein gesellschaftliches Trauma – und niemand will es klar benennen.
Die Rechte, allen voran Marine Le Pen, nutzt die Gelegenheit, um den „Zivilisationsbruch“ zu beklagen. Ja, es ist ein Bruch – aber nicht, weil unsere Kinder „barbarisch“ sind. Sondern weil wir Erwachsenen sie allein gelassen haben. Mit ihren Ängsten, ihrer Wut, ihrer Einsamkeit. Wir haben Schulen überladen, Lehrkräfte ausgelaugt, Familien unter Druck gesetzt. Und jetzt wundern wir uns?
Wir haben Jugendlichen ein System hinterlassen, das mit Prüfungen, Noten und Leistungsdruck operiert, aber kaum noch Raum lässt für Nähe, Empathie, Halt. Was ist ein Leben in einem Land wert, in dem ein Kind glaubt, das Leben eines anderen sei nicht mehr als ein Hindernis? Das ist nicht nur ein pädagogisches Problem. Das ist ein moralisches.
Nein, ein Messerverbot für Minderjährige wird dieses Land nicht retten. Auch nicht ein paar mehr Kameras oder ein Wachmann am Schultor. Frankreich muss aufhören, Symptome zu behandeln, während es die Wurzel des Schmerzes ignoriert. Und es muss sich endlich die unbequeme Frage stellen: Wie viel ist uns das Leben unserer Kinder wert?
Denn wer glaubt, es handele sich hier um einen Einzelfall, der irrt. Nogent ist kein Einzelfall. Nogent ist das Echo dessen, was wir seit Jahren nicht hören wollen: dass eine Generation heranwächst, die sich an der Welt wundreibt – und die, wenn wir nichts tun, daran zerbricht. Und mit ihr die Hoffnung, dass Schule ein sicherer Ort bleiben kann.
Frankreich, wie gehst du mit deinen Schülern um? Die Antwort entscheidet über deine Zukunft.
Ein Kommentar von Andreas Brucker
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