Tag & Nacht




Ich bin seit über 30 Jahren Journalist. Ich habe aus Kriesengebieten berichtet, über Diktaturen geschrieben, über Korruption berichtet, Mächtigen widersprochen. Ich habe Drohungen erhalten, wurde verhaftet, eingeschüchtert – aber nie zuvor hatte ich das Gefühl, dass unser Beruf so radikal entmenschlicht, so systematisch entwertet wird wie heute. Was in Gaza geschieht, ist kein Kollateralschaden. Es ist ein Krieg gegen die Wahrheit.

Seit Oktober 2023 sind fast 200 Journalistinnen und Journalisten im Gazastreifen getötet worden. Nicht zufällig. Nicht versehentlich. Sondern, so sieht es aus, gezielt. Wer das nicht erkennt – oder nicht erkennen will – macht sich mitschuldig. Die, die wir da verlieren, sind keine „Aktivisten“, keine „Terroristen mit Kamera“, wie es israelische Armeesprecher so kalt wie kalkuliert suggerieren. Es sind Kollegen. Menschen mit Stimme, Haltung und dem mut zur Dokumentation. Sie berichten über das Unaussprechliche – und sterben, weil sie es zeigen.

Der jüngste Angriff auf das Nasser-Krankenhaus in Khan Younis, bei dem fünf Reporter getötet wurden – ein sogenannter „Double Tap“, bei dem bewusst nach dem ersten Schlag erneut bombardiert wird, um Helfer, Sanitäter und Journalisten zu treffen – ist kein Zufall. Er ist Methode. Dass Israels Regierung sich hinstellt und von einem „tragischen Zwischenfall“ spricht, ist zynisch. Mehr noch: Es ist eine Lüge.

Ja, ich verwende das Wort Lüge. Denn was hier geschieht, ist der Versuch, eine ganze Realität auszulöschen. Bilder, Stimmen, Beweise – ausgelöscht unter Schutt und Staub. Es ist der Versuch, den Krieg zu führen, ohne dass jemand hinsieht. Ohne Zeugen. Ohne Mitschrift. Ohne Moral.

Die Welt aber sieht hin – oder müsste es zumindest. Nur: Sie schaut weg. Weil die Täter ein demokratischer Staat sind? Weil die Opfer arabische Reporter sind? Weil sie nicht unsere Sprache sprechen, sondern eine Sprache, die für viele ohnehin nur Hintergrundrauschen ist?

Ich schäme mich manchmal, ein Teil einer Branche zu sein, in der einige Kollegen schweigen, weil ihnen der Zugang fehlt oder weil sie „beide Seiten“ abbilden wollen. Nein, hier geht es nicht um Gleichgewicht. Es geht um Gerechtigkeit. Und um Wahrheit. Die Wahrheit hat ein Gesicht: Es ist das blutverschmierte Gesicht eines getöteten Kameramanns, der noch im Tod sein Arbeitsgerät umklammert.

Anas al-Sharif, Mariam Dagga, Hussam al-Masri – das sind Namen, die wir nicht vergessen dürfen. Sie stehen für etwas, das größer ist als Pressefreiheit: für das Recht der Welt, zu wissen, was geschieht. Wenn ein Staat Journalisten gezielt tötet, verliert er jede moralische Autorität – unabhängig davon, gegen wen er Krieg führt.

Ich habe einmal gelernt: Ein toter Journalist ist kein Einzelfall – er ist ein Warnruf. Wer Journalist:innen tötet, will mehr als sie nur zum Schweigen bringen. Er will die Geschichte neu schreiben, mit Bomben und Lügen. Aber das wird nicht gelingen. Denn so viele Kameras ihr zerstört, so viele Stimmen ihr zum Schweigen bringt – die Wahrheit bleibt bestehen. Weil wir sie weitertragen. Weil wir hinschauen. Weil unsere Kollegen – trotz aller Angst – weitermachen.

Ihr könnt uns töten. Ihr könnt unsere Häuser bombardieren, unsere Namen verleumden, unsere Archive zerstören. Aber was wir gesehen haben, was wir dokumentiert haben – das lebt. In Bildern. In Worten. In Erinnerungen. Und irgendwann, vielleicht viel zu spät, wird die Welt diese Wahrheit erkennen müssen. Und dann wird auch Gerechtigkeit ihren Weg finden. Für die Kollegen in Gaza. Für die Toten. Für die Wahrheit.

Von Andreas Brucker

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