38 Grad im Schatten. Kein Windhauch. Kein Baum. Kein Erbarmen.
So sieht in Marseille der Alltag für Tausende Kinder aus, die eigentlich lernen sollten – nicht leiden. Schulen, die einst als Orte der Hoffnung galten, verwandeln sich im Sommer in Hitzefallen, in stickige Betonkäfige, in Räume der Resignation.
Ich schreibe diesen Text nicht als Beobachter.
Sondern als Vater. Als Mensch. Und als jemand, der sich weigert, das als „neue Normalität“ hinzunehmen.
Denn was da in Marseille – und möglicherweise bald überall in Frankreich – passiert, ist ein stiller, aber systematischer Bildungsbruch. Und er beginnt mit einem Hitzestau im Klassenzimmer.
Wenn Kinder Nasenbluten bekommen, sich übergeben, weinen vor Erschöpfung, dann ist das kein Wetterphänomen. Dann ist das Politikversagen in Reinform.
Wie kann es sein, dass Schulen – unsere wichtigste gesellschaftliche Institution nach Krankenhäusern – schlechter gegen die Hitze geschützt sind als Supermärkte?
Wie kann es sein, dass es für Fleisch eine Kühlpflicht gibt, aber für Kinder in Schulen keine Temperaturgrenze?
Wollen wir wirklich zusehen, wie ganze Jahrgänge zwischen Schweiß und Sauerstoffmangel aufwachsen?
„Wir haben doch Ventilatoren verteilt.“ Dieser Satz, so oft gehört aus dem Mund von Kommunalpolitikern, ist ein Hohn. Ein Ventilator in einem 35-Quadratmeter-Klassenzimmer mit 28 Kindern ist keine Lösung. Es ist eine Verhöhnung.
Es zeigt: Wer so entscheidet, sitzt nicht in der Hitze. Wer so entscheidet, schwitzt nicht. Wer so entscheidet, hat in seiner Schulzeit wahrscheinlich nie einen Sommer wie diesen erlebt.
Wenn wir über Chancengleichheit reden, über gerechte Bildung und Zukunftskompetenzen – dann fängt das alles beim Raumklima an. Wörtlich. Denn wer in einem 38 Grad heißen Klassenzimmer sitzt, lernt nicht mehr – er überlebt.
Und während die Eltern in Marseille ihre Kinder mit feuchten Tüchern zur Schule schicken, stellen sich im Bildungsministerium die Pressesprecher die Frage, ob das Thema „vermittelbar“ sei.
Ich sage: Nein, nicht vermittelbar – sondern unaushaltbar.
Muss erst ein Kind kollabieren? Muss erst ein Lehrer ins Krankenhaus? Müssen wir warten, bis wieder einmal „nach der Katastrophe“ alles besser werden soll? Oder begreifen wir endlich, dass Klimaanpassung nicht nur eine Umweltfrage ist – sondern eine soziale, eine moralische, eine bildungspolitische?
Marseille ist erst der Anfang
Was heute in Marseille passiert, kann morgen in Lyon, Toulouse, Bordeaux zur Regel werden.
Wenn wir nicht radikal umdenken. Wenn wir nicht sofort und ernsthaft in Hitzeschutz investieren – in Dämmung, Begrünung, Lüftungssysteme. Nicht in drei Jahren. Jetzt.
Denn Bildung, die in der Hitze versiegt, ist keine Bildung mehr.
Es ist ein Staatsversagen auf leisen Sohlen.
Und es schreit nach Veränderung.
Ein Kommentar von Daniel Ivers
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