Sirenen heulen durch die Straßen von Marseille. Blaulicht flackert an den Fassaden. Es ist ein Notfall – wieder einmal. Doch kaum trifft die Feuerwehr ein, fliegen Flaschen. Bengalos, Schreie, Bedrohungen. Der Einsatzort? Kein Kriegsgebiet. Sondern ein ganz normales Wohnviertel. In Frankreich. Im Jahr 2025.
Was früher undenkbar war, wird heute zur bitteren Realität: Feuerwehrleute, Sanitäter und Notärzt:innen werden immer öfter Opfer von Gewalt. Und man fragt sich unweigerlich – was zur Hölle läuft hier eigentlich schief?
Es sind keine Einzelfälle mehr. Die Häufung dieser Angriffe ist nicht nur beunruhigend – sie ist ein Spiegel für das, was gerade mit unserer Gesellschaft passiert. Die, die helfen, werden zur Zielscheibe. Aus Frust, aus Wut, aus purem Unverständnis. Manchmal sogar einfach nur aus Langeweile. Eine erschütternde Normalität hat sich breitgemacht – eine, die die Menschlichkeit mit Füßen tritt.
Ich habe mit einem alten Bekannten gesprochen. Er fährt seit 22 Jahren Rettungswagen in Lyon. Sein Blick war leer, als er sagte: „Manchmal, wenn wir mit Blaulicht ankommen, hab ich mehr Angst vor den Umstehenden als vor dem Zustand des Patienten.“ Was für ein Satz. Was für eine Bankrotterklärung.
Der Respekt ist weg – verschwunden zwischen Misstrauen, sozialen Spannungen und dem Gefühl, abgehängt worden zu sein. Und wie so oft trifft der Zorn die Falschen. Nicht die Politiker. Nicht die Bürokraten. Sondern die, die im Ernstfall die Hand ausstrecken, während andere wegsehen.
Natürlich darf man die Ursachen nicht ignorieren: Armut, Perspektivlosigkeit, das Gefühl, im Stich gelassen zu werden – all das gärt in manchen Stadtvierteln. Aber das rechtfertigt keine Gewalt. Schon gar nicht gegen die, die Brände löschen und Leben retten.
Wenn Feuerwehrleute bei Einsätzen nur noch in Gruppen und unter Polizeischutz ausrücken können – was sagt das über uns aus? Und wie lange halten die, die sich dieser Aufgabe mit Mut und Hingabe stellen, das noch aus?
Ein Land, das seine Retter nicht schützt, hat ein massives Problem. Und es ist nicht allein ein Sicherheitsproblem. Es ist ein gesellschaftliches Versagen.
Was tun? Härtere Strafen? Ja, auch. Aber vor allem braucht es Anerkennung, öffentliche Solidarität und eine Rückbesinnung auf den Respekt. Es braucht Bildung, Empathie, Gesprächsangebote – keine weiteren Mauern aus Misstrauen.
Denn der Moment, in dem die Sirenen verstummen, weil niemand mehr fahren will – der wird kommen. Und er wird alles verändern.
Ein Kommentar von Daniel Ivers
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