Es ist zum Verzweifeln.
Wieder einmal berichten ehemalige Schüler:innen katholischer Schulen in Frankreich von Misshandlungen, Demütigungen, sexuellen Übergriffen. Wieder einmal müssen sich Erwachsene öffentlich entblößen, damit irgendjemand hinhört. Wieder einmal dreht sich alles um das gleiche Muster: Gewalt. Macht. Schweigen.
Und mittendrin eine Institution, die sich gern auf ihre Werte beruft: christlich, moralisch, erziehend. Nächstenliebe. Vergebung. Schutz für die Schwachen. Klingt gut auf dem Papier. Aber was ist das wert, wenn Kinder in Internatsbetten weinen und niemand fragt, warum?
Der Missbrauch in der katholischen Kirche ist kein Betriebsunfall. Er ist ein Systemfehler mit Ansage. Jahrzehntelang haben Ordensleute, Lehrer, Schulverantwortliche weggesehen – oder schlimmer: mitgemacht. Und heute? Heute ducken sich viele von ihnen weg, sobald das Wort „Verantwortung“ fällt.
Es ist eine Schande.
Nicht nur für die Kirche. Sondern auch für eine Gesellschaft, die sich viel zu lange von Gewändern und Weihrauch blenden ließ.
Wie oft sollen sich noch Opfer auf Bühnen stellen müssen, ihre Geschichten erzählen, ihr Innerstes nach außen kehren? Wie oft müssen sie betteln – ja, betteln – um Anerkennung, um Würde, um einen Hauch Gerechtigkeit?
Die Frage ist nicht: Gab es Missbrauch in kirchlichen Schulen?
Die Frage ist: Wie viele Wellen der Offenlegung braucht es noch, bis sich endlich etwas ändert?
Die Kirche gibt sich geläutert, veranstaltet Synoden, beruft unabhängige Kommissionen. Aber solange die Täter von einst nicht benannt werden, solange Schulträger lieber auf Schadensbegrenzung als auf Schuldeingeständnis setzen, bleibt alles Fassade.
Und wer schützt heute die Kinder in den Internaten?
Man kann nur hoffen, dass wir nicht auch in zehn oder zwanzig Jahren wieder Artikel lesen müssen mit der Überschrift: „Ehemalige Schüler berichten von Missbrauch.“ Denn dann hätten wir alle – Gesellschaft, Staat, Kirche – kolossal versagt.
Nächstenliebe beginnt nicht beim Gebet.
Sondern beim Hinschauen.
Ein Kommentar von Daniel Ivers
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