Frankreichs neue Regierung unter Premierminister Sébastien Lecornu befindet sich kaum im Amt, da muss sie schon um ihr politisches Überleben kämpfen. In einer überraschenden Wendung kündigte Lecornu gestern an, die umstrittene Rentenreform – insbesondere die Anhebung des gesetzlichen Rentenalters auf 64 Jahre sowie die Verlängerung der Beitragsdauer – bis nach der nächsten Präsidentschaftswahl – bis Januar 2028 – auszusetzen. Damit erfüllt er zentrale Forderungen der Parti Socialiste (PS), die ihrerseits nun auf eine Misstrauensabstimmung verzichtet. Für beide Seiten ist dies ein taktischer Gewinn, aber zugleich ein riskantes Spiel mit offenem Ausgang.
Kein Sieg, sondern ein Waffenstillstand
Auf den ersten Blick mag die Entscheidung wie eine Kapitulation der Regierung wirken. Doch sie ist weniger ein Rückzieher als vielmehr ein zeitlich begrenzter Kompromiss. Die beschlossenen Reformelemente werden nicht aufgehoben, sondern lediglich „eingefroren“. Nach Januar 2028 könnten sie – abhängig von der politischen Lage – reaktiviert, angepasst oder endgültig verworfen werden. Die Entscheidung schafft also keinen neuen Status quo, sondern verschiebt lediglich eine umstrittene Debatte in die Zukunft.
Für Premierminister Lecornu ist die Ankündigung ein Akt der Schadensbegrenzung. Angesichts zweier drohenden Misstrauensabstimmungen in der Nationalversammlung musste er Bewegung zeigen. Indem er den Sozialisten entgegenkam, sichert er kurzfristig seine Machtbasis – allerdings um den Preis politischer Unklarheit. Denn mit dem Moratorium ist das Grundproblem nicht gelöst, sondern lediglich vertagt.
Politisches Kalkül in einem fragmentierten Parlament
Das französische Parlament ist seit der Wahl von 2024 tief zersplittert. Keine Partei verfügt über eine absolute Mehrheit. In diesem Kontext wird politische Führung zunehmend durch kurzfristige Allianzen und taktische Zugeständnisse ersetzt. Die Entscheidung Lecornus ist symptomatisch für diese Lage: Eine substanzielle Reform, unter Präsident Macron im Jahr 2023 durchgesetzt, wird ausgesetzt, um der Regierung die Unterstützung eines oppositionellen Blocks im Parlament zu sichern.
Für die Parti Socialiste ist dies ein symbolischer Erfolg. Er zeigt, dass auch eine kleinere Oppositionspartei in der Lage ist, zentrale Entscheidungen zu beeinflussen – wenn die Regierung auf ihre Stimmen angewiesen ist. Doch der Preis ist hoch: Die Sozialisten leisten keine vorbehaltlose Unterstützung, sondern gewähren eine zeitlich und sachlich begrenzte politische Atempause. Damit bleibt ihre Rolle ambivalent: weder Regierungspartner noch fundamentaloppositionell, sondern Teil eines taktischen Gleichgewichts.
Die finanzielle Dimension des Aufschubs
Der zeitlich begrenzte Verzicht auf die Umsetzung der Reform hat klare fiskalische Konsequenzen. Experten rechnen mit signifikanten Mehrbelastungen für den Staatshaushalt in den kommenden Jahren. Ohne die geplanten Änderungen an Renteneintrittsalter und Beitragszeit verlängert sich die Phase hoher Defizite in den öffentlichen Kassen. Zudem wird ein zentrales Argument der ursprünglichen Reform – die langfristige Finanzierbarkeit des Rentensystems – faktisch ausgehebelt, ohne dass ein alternativer Lösungsansatz präsentiert wird.
Auch die Sozialpartner zeigen sich unzufrieden: Während Arbeitgeberverbände weiterhin auf Strukturreformen pochen, bleibt die gewerkschaftliche Seite skeptisch. Die meisten Arbeitnehmervertretungen fordern nicht bloß eine Aussetzung, sondern die vollständige Rücknahme der Maßnahmen. Für sie ist das Anheben des Rentenalters ein systemischer Rückschritt, unabhängig von seiner zeitlichen Verschiebung.
Symbolpolitik als Übergangsstrategie
Gleichzeitig kündigte die Regierung eine nationale Konferenz über Rente und Arbeit an, um in den kommenden Jahren ein neues Modell zu erarbeiten. Doch auch das wirkt vorerst wie ein Versuch, Zeit zu gewinnen. Die politischen Mehrheiten sind instabil, die gesellschaftliche Akzeptanz für tiefgreifende Reformen ist begrenzt, und das Vertrauen in die politische Klasse ist angespannt. Unter diesen Bedingungen erscheint das Moratorium eher als Schutzmaßnahme denn als strategischer Neuanfang.
Dass dieser Kompromiss zustande kam, zeigt aber auch: In einem zersplitterten Parlament können oppositionelle Kräfte nicht nur blockieren, sondern auch gestalten – zumindest temporär. Die Frage ist nur, ob diese Gestaltungskraft über punktuelle Erfolge hinaus Bestand hat oder ob sie im Rhythmus der nächsten Krise wieder verpufft.
Der eigentliche Test kommt erst nach 2028
Die politische Sprengkraft der Rentenfrage ist nur aufgeschoben, nicht aufgehoben. Nach der nächsten Präsidentschaftswahl wird sich entscheiden, ob die Reformideen von 2023 in neuer Form wieder auf die Agenda kommen, ob ein gänzlich neues Modell ausgearbeitet wird – oder ob der französische Staat sich dauerhaft von einem kohärenten Reformansatz verabschiedet.
So bleibt die jüngste Wendung ein Spiegelbild der französischen Politik im Jahr 2025: geprägt von Unsicherheit, getrieben von kurzfristigem Kalkül – und dennoch offen für politische Beweglichkeit. Ob diese Beweglichkeit zu struktureller Stabilität führen kann, bleibt abzuwarten.
Autor: P. Tiko
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