Die Entscheidung von La France insoumise (LFI), den neuen Protestaufruf „Bloquons tout“ aktiv zu unterstützen, markiert einen strategischen Wendepunkt für Jean-Luc Mélenchons Partei. Am 10. September will das heterogene Bündnis aus Bürgerinitiativen, Gewerkschaftsnahen und parteiunabhängigen Aktivisten Frankreich weitgehend lahmlegen – als Reaktion auf die von Premierminister François Bayrou angekündigten Sparmaßnahmen.
Ein diffuses Aufbegehren
Die Bewegung „Bloquons tout“ entstand im Sommer 2025 in den sozialen Netzwerken. Sie vereint unterschiedliche unzufriedene Menschen: Die Streichung zweier Feiertage, Kürzungen bei öffentlichen Diensten und ein Einfrieren der Renten gelten als zentrale Auslöser. Auffällig ist die horizontale Struktur ohne offizielle Sprecher und ohne Anbindung an Parteien oder Gewerkschaften – ein Modell, das an die Bewegung der Gilets jaunes von 2018 erinnert. Die Forderungen reichen von Lohnerhöhungen über die Verteidigung des Sozialstaats bis hin zu einem Referendum d’initiative citoyenne (RIC). Die geplanten Aktionsformen sind vielfältig: Streiks, Boykotte, symbolische Platzbesetzungen.
Mélenchons Kurswechsel
Am 16. August publizierte Jean-Luc Mélenchon gemeinsam mit führenden Köpfen von LFI einen offenen Brief in La Tribune Dimanche, in der er die eigene Parteibasis zur Teilnahme aufforderte. Damit vollzog der Linkspopulist eine Kehrtwende: Noch wenige Wochen zuvor hatte er betont, der Bewegung müsse ihre politische Unabhängigkeit bewahrt bleiben. Nun will LFI das Momentum nutzen und die Proteste parlamentarisch flankieren: Eine Sondersitzung der Assemblée nationale soll einen Misstrauensantrag gegen Bayrous Regierung auf den Weg bringen.
Geteilte Linke, abwartende Sozialisten
Die übrigen Parteien der Linken halten sich zurück. Sozialisten, Kommunisten und Grüne haben bislang keine offizielle Unterstützung signalisiert. Sie fürchten, dass das schwer einzuordnende Protestgeflecht politisch instrumentalisiert oder unkontrollierbar werden könnte. Einzelne prominente Figuren wie Clémentine Autain und Sandrine Rousseau rufen zwar zur Mobilisierung auf, vermeiden aber eine direkte Bezugnahme auf „Bloquons tout“. Die Partei Nouveau Parti anticapitaliste (NPA) hingegen hat sich klar positioniert und seine Unterstützung zugesagt.
Chancen und Risiken
Für LFI ist der Schulterschluss mit der Bewegung eine Gratwanderung. Einerseits eröffnet er die Möglichkeit, an diffuse soziale Unzufriedenheiten anzuknüpfen und neue Dynamiken für die Partei zu generieren, die seit den Europawahlen an Bindungskraft verloren hatte. Andererseits ist das Risiko erheblich: Bleibt der Protest am 10. September marginal, könnte der strategische Einsatz verpuffen. Noch gravierender wäre eine Wahrnehmung, LFI wolle eine basisdemokratische Initiative vereinnahmen – ein Vorwurf, der im Lager der Gilets jaunes schon früh zu Zerwürfnissen führte.
Hinzu kommt eine soziologische Komponente: Teile der Bewegung speisen sich aus Gesellschaftsschichten, die Parteien grundsätzlich misstrauisch gegenüberstehen. Ein zu sichtbarer LFI-Einfluss könnte potenzielle Mitstreiter abschrecken. Entscheidend wird sein, ob es den lokalen Kollektiven gelingt, Aktionen von Relevanz und Breite zu organisieren, ohne in der Vielfalt der Forderungen zu zersplittern.
Das Votum von LFI für „Bloquons tout“ signalisiert, dass Mélenchon und sein Umfeld bereit sind, ihr politisches Kapital in eine ungewisse Mobilisierung zu investieren. Gelingt es, die Proteste über den 10. September hinaus zu verstetigen, könnte LFI gestärkt in die nächste Haushaltsdebatte und in mögliche vorgezogene Wahlen gehen. Scheitert das Vorhaben, droht der Partei eine weitere Entfremdung von Teilen der linken Wählerschaft. Der Tag der Blockade wird damit auch zum Lackmustest für die strategische Ausrichtung von Mélenchons Bewegung.
Autor: P. Tiko
Abonniere einfach den Newsletter unserer Chefredaktion!