Tag & Nacht


Lens.
Ein Name, der früher nach Kohle roch, nach Schichtwechsel und rußigen Händen. Heute klingt er anders. Leichter. Fast neugierig. Der New York Times genügte ein einziger Artikel, um die Stadt im Norden Frankreichs zur „perfekten Auszeit“ zu erklären – ein Tagestrip ab Paris, ein Abstecher ins echte Leben. Und plötzlich horchen alle auf.

Was macht diese Stadt, die viele lange unterschätzt haben, so besonders?

Manchmal reicht ein Blick von außen, um das Eigene neu zu sehen.


Lens liegt keine Stunde mit dem Zug von Paris entfernt. Für Amerikaner ein Katzensprung, für Franzosen fast schon Alltag. Und doch schien die Stadt lange unsichtbar. Wer Richtung Norden fuhr, dachte an Lille. Oder gleich an Belgien. Lens lag dazwischen – wortwörtlich und gefühlt.



Bis jetzt.

Als der Artikel aus Übersee erschien, ging ein leises Raunen durch die Straßen. In den Cafés, auf dem Markt, vor der Bäckerei an der Ecke. „Hast du das gelesen?“ – „Die meinen wirklich uns?“ Ein bisschen Stolz schwang mit. Und Überraschung. Viel Überraschung.

Ein älterer Herr vor dem Tabakladen grinste breit. „Wir wussten das doch immer“, sagte er. „Aber gut, dass es jetzt auch andere merken.“


Lens trägt seine Geschichte offen.
Man muss nicht lange suchen.

Die roten Backsteinfassaden erzählen von Arbeiterfamilien, von Solidarität, von einem Norden, der nie geschniegelt wirken wollte. Art déco blitzt zwischen den Häusern auf – selbstbewusst, aber nicht laut. Keine aufgesetzte Schönheit, sondern gewachsene.

Und dann diese Terrils.

Schwarze Hügel, die einst nur Abfall waren. Heute Aussichtspunkte. Orte für Spaziergänge, Selfies, Picknicks. Wer hinaufsteigt, merkt schnell: Das hier ist kein Symbol der Vergangenheit, sondern eines der Verwandlung. Aus Last wurde Landschaft. Aus Arbeit wurde Weite.

Ist das nicht eine der schönsten Metaphern überhaupt?


Der New York Times gefiel genau das.
Nicht das Polierte. Nicht das Perfekte. Sondern das Echte.

Die Fotos im Artikel zeigen Lens so, wie es ist – ohne Filter. Das Zentrum, die stillen Straßen, die monumentale Militärnekropole vor den Toren der Stadt. Die größte in Frankreich. Tausende weiße Kreuze, akkurat ausgerichtet. Ein Ort, der schweigen lässt. Und nachdenklich macht.

Wer dort steht, spürt: Geschichte hier ist keine Kulisse. Sie bleibt präsent.


Und dann natürlich das Louvre Lens.

Ein Museum, das man nicht erwartet. Flach, modern, aus Glas und Licht. Kein Palast, kein Protz. Sondern Offenheit. Der Pariser Louvre hat hier eine Dependance geschaffen, die nicht kopiert, sondern interpretiert.

250 Werke. Antike trifft Moderne. Meisterwerke ohne Gedränge. Besucher gehen langsamer, schauen länger. Keine Ellbogen, kein Gedrängel vor der Mona Lisa. Dafür Raum. Und Zeit.

Letztes Jahr kamen rund 400.000 Menschen. Für Lens eine kleine Sensation.

Juliette Barthélémy von der Museumsleitung formulierte es treffend: schmeichelhaft, überraschend – und irgendwie logisch. Lens besitzt alles, was ein Ort für Kunst braucht: Ruhe, Kontext, Neugier.

Warum also nicht hier?


In den Kommentarspalten des amerikanischen Artikels herrschte Begeisterung. Einer schrieb, Lens stehe jetzt auf seiner Paris-Liste. Ein anderer staunte über begehbare Terrils. „Das müssen meine Freunde aus West Virginia sehen!“ hieß es dort.

Schon witzig, wie sich Bergbauregionen über Kontinente hinweg erkennen.


Lens reagiert gelassen auf den plötzlichen Ruhm.

Keine Marketing-Offensive. Keine überdrehten Slogans. Stattdessen Pommes. Ehrlich jetzt.

In einer Friterie, die vom New York Times kurzerhand zur besten der Welt erklärt wurde, lachte man über den Titel. „Wenn sie kommen, sind wir da“, meinte die Besitzerin. Mehr Planung brauche es nicht.

Die Fritten knusprig, die Soßen üppig, der Ton herzlich. Nordfrankreich eben.


Und dann gibt es da noch den Fußball.

Stade Bollaert.
Ein Name, der in Lens ehrfürchtig ausgesprochen wird.

An Spieltagen pulsiert die Stadt. Rot-gelbe Schals, Gesänge, Gänsehaut. Der RC Lens ist kein Verein – er ist Identität. Wer einmal ein Spiel dort erlebt hat, versteht sofort, warum selbst Neutralen das Herz schneller schlägt.

Ein Stadion als Wohnzimmer. Als Treffpunkt. Als emotionales Zentrum.

Wie viele Städte besitzen so etwas noch?


Lens erzählt keine Märchen.
Lens erzählt von sich.

Von Menschen, die geblieben sind. Von Wandel ohne Verdrängung. Von Stolz ohne Arroganz. Der Blick aus New York wirkte wie ein Spiegel – und Lens gefiel, was es darin sah.

Vielleicht liegt genau darin die Kraft dieses Ortes. Er will niemandem gefallen. Und tut es gerade deshalb.


Reisen bedeutet nicht immer, weit zu gehen. Manchmal reicht ein Schritt zur Seite. Ein Umweg. Ein Blick auf das, was sonst übersehen wird.

Lens lädt dazu ein.

Für einen Tag. Oder länger. Ohne To-do-Liste. Ohne Erwartungsdruck. Einfach ankommen, schauen, zuhören. Die Backsteine fühlen, den Wind auf dem Terril, das Schweigen der Nekropole, das Lachen in der Friterie.

Wer weiß – vielleicht erzählt man später selbst davon. So wie jetzt die New York Times.

Und sagt: „Da war ich. Und es war genau richtig.“

Ein Artikel von M. Legrand

Neues E-Book bei Nachrichten.fr







Du möchtest immer die neuesten Nachrichten aus Frankreich?
Abonniere einfach den Newsletter unserer Chefredaktion!