Tag & Nacht




Ein lauer Abend, ein belebter Boulevard, eine Bushaltestelle – und plötzlich tödliche Schüsse. Am späten Dienstag, dem 13. Mai 2025, wurde in Marseille erneut ein Mensch auf offener Straße erschossen. Diesmal traf es einen jungen Mann, 22 Jahre alt, erschossen von zwei Unbekannten auf einem Motorroller im 3. Arrondissement. Die Täter flüchteten, das Opfer starb noch vor Ort.

Ein Drama, das sich beinahe gespenstisch in eine unheilvolle Serie einfügt. Denn Marseille, einst stolze Hafenstadt mit mediterranem Flair, steht schon lange im Schatten einer schier unendlichen Gewaltwelle.

Ein Stadtviertel zwischen Hoffnung und Hoffnungslosigkeit

Der Boulevard National ist Symbol für die soziale Kluft in Marseille geworden. Im 3. Arrondissement, einem der ärmsten Viertel Frankreichs, ist die Stimmung angespannt, geprägt von Perspektivlosigkeit und sozialem Abstieg. Wer hier wohnt, weiß: Gewalt ist allgegenwärtig. Viele versuchen, sich durchzubeißen – manche schaffen es. Andere geraten auf Abwege.

Das jüngste Opfer lebte ohne legalen Aufenthaltsstatus in Frankreich, war der Polizei wegen kleinerer Delikte bekannt. Kein unbeschriebenes Blatt, aber auch kein berüchtigter Gangster. Nur ein junger Mann in einer Stadt, die zu oft nicht mehr fragt, warum jemand zum Opfer wird – sondern nur, wann es das nächste Mal passiert.

Marseille und die Schatten der organisierten Kriminalität

Seit Jahren beobachten Experten mit Sorge die Entwicklung: Immer professioneller, immer brutaler agieren kriminelle Netzwerke – oft mit internationalen Verbindungen. Die berüchtigte „DZ Mafia“, um nur ein Beispiel zu nennen, hat sich längst in den Vierteln von Marsille festgesetzt. Es geht um Drogen, um Macht, um Geld. Und um Einschüchterung.

Diese neue Generation von Tätern ist anders. Sie ist jung, skrupellos, digital vernetzt und bereit, für ein paar Tausend Euro zu töten. Nicht selten sind es Minderjährige, die zu Auftragsmördern mutieren – als wären sie bloße Spielfiguren in einem perfiden Spiel.

Eine Polizei am Limit

Die Ermittlungen im aktuellen Fall laufen auf Hochtouren. Die Division de la Criminalité Organisée et Spécialisée (DCOS) hat übernommen, Zeugen werden befragt, Videoaufnahmen ausgewertet. Doch selbst engagierte Ermittler stoßen an Grenzen – rechtlich, personell, emotional.

Wie soll man gegen ein System kämpfen, das wie ein Krake immer neue Tentakel ausfährt? Und wie kann man Vertrauen aufbauen, wenn viele Menschen in diesen Vierteln den Staat längst aufgegeben haben?

Gesellschaftliche Lösungen statt bloßer Repression

Dass härtere Strafen allein keine Wunder bewirken, ist längst bekannt. Was fehlt, ist ein ganzheitlicher Ansatz. Investitionen in Bildung, Jugendarbeit, Wohnraum – das alles klingt nach alten Hüten, aber genau das braucht es jetzt mehr denn je. Denn Gewalt entsteht nicht im luftleeren Raum.

Manche Bewohner fordern mehr Polizeipräsenz, andere mehr Sozialarbeiter. Doch was wäre, wenn beides Hand in Hand ginge? Wenn Prävention und Repression nicht als Gegensätze, sondern als Teile eines Ganzen verstanden würden?

Die Stadt Marseille hat viel erlebt – viel Schönes, viel Schreckliches. Und sie hat sich nie aufgegeben. Immer wieder gibt es Initiativen, die Jugendlichen Alternativen aufzeigen, die Nachbarschaften stärken, die zeigen: Auch hier gibt es Zusammenhalt.

Und dennoch – der tödliche Schuss an der Bushaltestelle am Boulevard National ist wieder ein neuer Weckruf. Wie viele davon braucht es noch?

Von Andreas M. Brucker

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