Es riecht nach Zitronengras, frisch gebackenem Brot, gebratenen Paprikaschoten und wildem Rosmarin. Wer durch Marseille schlendert, merkt sofort: Hier entsteht etwas. Die Stadt, einst nur für Bouillabaisse und Hafenflair bekannt, wird zur Spielwiese einer neuen Generation von Küchenkünstlern. Jung, mutig, manchmal frech – und mit jeder Menge Geschmack im Gepäck.
Eine stille Revolution zieht durch die Gassen, mit Pfannen statt Parolen.
Wenn Gemüse zur Hauptrolle wird
Frühling, Rue du Paradis: Ein junges Paar eröffnet das Restaurant Mauvaise Herbe. Vegan, bunt, unaufgeregt – und mitten in einer Stadt, die sonst lieber Fisch und Aioli auf den Tisch bringt.
„Das vegetarische Angebot war hier ziemlich dünn“, erzählt Nicolas Plumelle, Mitgründer. „Wir wollten, dass Gemüse und Kräuter endlich ihren Platz bekommen.“
Das Konzept? Voll eingeschlagen. Jeden Mittag sitzen rund 70 Gäste in der Sonne, schlürfen hausgemachte Säfte, reden über Geschmack statt Kalorien.
Marseille, die alte Seele, entdeckt ihr grünes Herz.
Und genau da liegt die Magie: Diese neuen Köche predigen nicht, sie verführen. Sie nehmen die lokale Küche, drehen sie einmal durch die Welt und servieren sie mit einem Augenzwinkern.
Zwischen Afrika und Mittelmeer
Wer durch den Markt von Noailles streift, kann Hugues Mbenda kaum übersehen. 36, offen, herzlich, mit dem Lächeln eines Mannes, der seinen Platz gefunden hat. Sein Restaurant Libala & Kin vereint zwei Welten – Kongo und Provence, Zitronengras trifft auf Safran, Maniok auf Dorade.
„Marseille gibt jungen Leuten Chancen“, sagt er. „Hier kann man etwas wagen, auch mit kleinem Budget. Die Märkte sind voll, das Publikum neugierig.“
Er greift sich eine Handvoll Shiitake-Pilze, rührt in einem Sud aus süßem Chili und Limette – und man spürt: Dieser Mann kocht Geschichten, keine Gerichte.
Marseille lässt ihn atmen.
Kreativität mit Nachgeschmack – im besten Sinn
Am Rand der Innenstadt, irgendwo zwischen Bar à Vin und Atelier, steht Zuri Camille de Souza am Herd. Die indischstämmige Köchin zaubert an diesem Abend Tempura aus lokalen Chilis, serviert mit rohem Gemüse und Dips, die klingen, als hätte jemand Südindien und Südfrankreich an einen Tisch gesetzt.
„In Marseille kennt man sich. Es gibt Nähe, Austausch, echtes Miteinander“, sagt sie. „Man hilft sich, probiert zusammen, teilt Ideen.“
Und tatsächlich – das ist das Geheimrezept der Stadt. Statt Konkurrenz gibt’s Kooperation.
Marseille hat nur vier Sterne-Restaurants, doch dafür hunderte funkelnde Köpfe, die Tag für Tag Neues auf die Teller bringen.
Zwischen Improvisation und Intuition
Was ist eigentlich typisch marseillais?
Ein Ratatouille mit Kurkuma? Ein Raviolo mit Meeresfrüchten und Tamarinde? Oder doch die klassische Bouillabaisse – aber vegan?
Hier verschwimmen die Grenzen. Das alte „entweder oder“ existiert nicht mehr. Stattdessen ein neugieriges „warum nicht?“.
Die Köchinnen und Köche dieser neuen Welle spielen mit Texturen, Aromen, Erinnerungen. Sie kaufen morgens am Hafen ein, mittags wird gekocht, abends improvisiert. Kein Menü gleicht dem anderen.
Und ja, manchmal landet etwas Ungewöhnliches auf dem Teller. Aber genau das liebt das Publikum: Es kommt, um überrascht zu werden.
Wenn Essen verbindet
Marseille war schon immer eine Stadt des Austauschs. Jetzt zeigt sie, dass das auch in der Küche funktioniert.
Im Sommer sitzen die Menschen draußen, irgendwo zwischen Olivenbäumen und Meerblick, teilen eine Flasche Wein, lachen, probieren, diskutieren.
„Ich will, dass man in meinen Gerichten den Kongo und das Mittelmeer schmeckt“, sagt Mbenda. „Beide sind Teil von mir.“
Ein Satz, der für viele hier gelten könnte.
Denn Kochen in Marseille heißt: Identität auf den Teller bringen – ohne Etiketten, ohne Angst.
Eine Stadt im Kochrausch
Überall poppen neue Konzepte auf. Foodtrucks mit poetischen Namen, kleine Bistros in alten Werkstätten, Weinbars mit Mini-Küchen und maximaler Idee.
Die Zutaten sind einfach: gute Produkte, Neugier, Mut. Und natürlich Sonne – viel Sonne.
Manchmal geht’s schief. Aber wer scheitert, steht einfach wieder auf, lächelt und probiert was Neues. Das passt zur Stadt, die nie ganz perfekt, aber immer lebendig ist.
Der Geist von Marseille
Marseille ist roh, herzlich, ungezähmt – und genau das spiegelt sich auf den Tellern wider.
Hier darf’s scheppern, rauchen, duften. Hier wird gelacht, diskutiert, gewürzt, probiert.
Man spürt, dass hinter jeder Küche eine Geschichte steckt: von Herkunft, Aufbruch, manchmal Heimweh.
Und vielleicht ist es genau das, was die neue Marseiller Küche so besonders macht – sie hat Herz.
Hast du schon mal einen Ort geschmeckt?
Marseille schmeckt nach Sonne, Salz, Pfeffer und einem Schuss Verrücktheit.
Blick nach vorn
Gerüchte machen die Runde: Junge Talente aus Lyon, Paris, sogar Berlin überlegen, nach Marseille zu ziehen. Warum? Weil hier Freiheit weht – und Platz für Neues.
Manche träumen von einem Restaurant auf einem Boot, andere von einer Küche unter freiem Himmel.
Und wer weiß? Vielleicht steht der nächste große Name der französischen Gastronomie bald hier, irgendwo zwischen Hafen und Hügel.
Marseille brodelt. Und das ist erst der Anfang.
Ein Artikel von M. Legrand
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