Wo das azurblaue Mittelmeer auf zerklüftete Kalksteinfelsen trifft, beginnt eine Welt, die gleichermaßen betört und beunruhigt. Die Calanques südlich von Marseille sind ein Naturparadies – rau, majestätisch, zerbrechlich. Und sie ziehen Menschen an, die das Extreme suchen.
Denn was aussieht wie ein Postkartenidyll, ist längst zur Bühne für todesmutige Sprünge, brennende Wälder und einen Kampf um den Erhalt eines einzigartigen Ökosystems geworden.
Loulou – der Lehrer der Furchtlosen
Er ist eine Legende in Marseille: Lionel Franc, besser bekannt als „Loulou“. Der Mann, der sich kopfüber aus 36 Metern in die Tiefe stürzte – und dafür einen Weltrekord kassierte. Kein Seil, kein Netz, kein Spielraum für Fehler.
Heute trainiert der 53-Jährige junge Klippenspringer aus Marseille. Die nennen sich selbst „têtes brûlées“ – Hitzköpfe. Und genau das sind viele von ihnen: junge Männer und Frauen, berauscht von Social-Media-Clips, Adrenalin und der Aussicht auf Ruhm.
Loulou aber weiß, wie schnell der Traum zum Albtraum wird. Sein eigener Rekordsprung war das Ergebnis von zehn Jahren Training. Zehn Jahre – für ein paar Sekunden Flug.
Sein Ziel heute? Aufklären, bremsen, schützen. „Ich fühle mich furchtbar verantwortlich“, sagt er in einem Interview. Denn trotz seiner Mahnungen, trotz seiner Kurse – die Unfälle nehmen nicht ab.
Und die Frage steht im Raum: Wie viele müssen noch springen, bevor einer nicht mehr auftaucht?
Wenn aus Sommerhitze Flammen werden
Die Calanques sind nicht nur ein Ort für Extremsportler – sie sind auch ein Pulverfass. Am 31. Mai stand die Calanque de Samena in Flammen. Vier Hektar Vegetation – dahin. Binnen Minuten rückten die Marins-Pompiers aus, jene maritimen Feuerwehrleute, die in Marseille für die Sicherheit an Land und auf See sorgen. Sie hatten das Feuer schnell im Griff – diesmal.
Doch das war nicht das erste Mal. Und es wird nicht das letzte Mal gewesen sein.
Seit 2012 gehören die Calanques zu einem Nationalpark – streng geschützt, einzigartig in ihrer biologischen Vielfalt. Doch gegen Zigarettenstummel, illegale Feuerstellen und sommerliche Trockenheit helfen auch Schutzschilder wenig.
Die Realität: Ein unachtsamer Moment genügt – und die Natur steht in Flammen.
Wandern, Klettern, Baden, Tauchen – die Calanques sind ein Magnet für Erholungssuchende. Bis zu zwei Millionen Menschen strömen jedes Jahr in das Gebiet zwischen Marseille und Cassis. Eine Belastung, die Spuren hinterlässt.
Um das fragile Gleichgewicht zwischen Natur und Nutzung zu erhalten, greift der Nationalpark inzwischen zu drastischeren Mitteln. Besucherlimits etwa – besonders in der überlaufenen Calanque de Sugiton. Wer im Sommer dort hin will, muss vorher reservieren.
Aber nicht alle halten sich daran. Einige ignorieren die Regeln. Andere wissen es gar nicht besser.
Und doch: Es gibt Hoffnung.
Einer dieser Hoffnungsschimmer trägt den Namen „Clean My Calanques“. Eine Initiative, die mit Greifzangen, Müllsäcken und guter Laune regelmäßig aufräumt, was andere liegen lassen – Zigaretten, Plastik, Dosen, Flaschen.
Gegründet von jungen Menschen aus der Region, bringt „Clean My Calanques“ hunderte Freiwillige zusammen. Beim Aufräumen. Beim Informieren. Beim Bewusstmachen. Sie machen das, was sonst keiner macht: Sie zeigen, dass Umweltschutz nicht abstrakt ist – sondern greifbar.
Ein Vorbild, das Schule machen könnte.
Was also bleibt von diesem Ort, an dem Natur, Mensch und Risiko so dicht aufeinandertreffen?
Zum einen: Die unbändige Anziehungskraft einer Landschaft, die zum Träumen einlädt. Zum anderen: Eine alarmierende Zunahme von Gefahren – seien sie sportlich oder ökologisch.
Die Calanques sind schön. Aber sie sind kein Spielplatz.
Wer dort springt, wandert oder einfach nur die Sonne genießt, übernimmt Verantwortung – für sich, für andere und für das, was bleibt. Denn in einer Welt, die zunehmend aus den Fugen gerät, ist der Schutz solcher Orte keine Option mehr.
Er ist Pflicht.
Autor: Andreas M. Brucker
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