Tag & Nacht


Manchmal braucht es keine spektakulären Technikrevolutionen, keine milliardenschweren Forschungszentren. Manchmal reicht eine Gruppe von Menschen mit Lupen, Netzen, Tauchgeräten und der geduldigen Neugier, die Welt noch einmal genau anzuschauen. Genau das ist rund um die südlichen Inseln des französischen Guadeloupe-Archipels geschehen. Und das Ergebnis überrascht selbst abgeklärte Biologen.

Mehr als hundert bislang unbekannte Arten sind dort entdeckt worden. Keine hypothetischen Mutmaßungen, keine grauen Zonen, sondern sauber dokumentierte, beschriebene, katalogisierte Lebewesen. Für die Naturforschung in der Karibik ist das eine kleine Sensation. Für Guadeloupe selbst womöglich ein Wendepunkt im Umgang mit der eigenen Umwelt.

Die internationale Expedition, die dieses Ergebnis hervorgebracht hat, lief über weite Teile des Jahres 2024. Beteiligt waren Forschende der regionalen Biodiversitätsagentur der Inseln von Guadeloupe ebenso wie Expertinnen und Experten des Pariser Muséum national d’histoire naturelle. Hinzu kamen Universitätsangehörige, Entomologen, Botaniker und Meeresbiologen aus mehreren Ländern. Rund 120 Wissenschaftler arbeiteten im Rahmen des Programms „La Planète revisitée des îles de Guadeloupe“ zusammen, einer Initiative mit einem ebenso schlichten wie ambitionierten Ziel: Wissenslücken schließen, dort, wo bislang kaum jemand genau hingeschaut hat.

Und diese Lücken waren größer, als man lange angenommen hatte.



Besonders im marinen Bereich traten Überraschungen zutage. Etwa fünfzig neue Arten aus dem Meer wurden identifiziert, darunter winzige Krebstiere, unscheinbare Weichtiere und andere wirbellose Organismen, die bislang schlicht übersehen worden waren. Sie leben in Korallenstrukturen, in Sedimenten, in ökologischen Nischen, die mit klassischen Erfassungsmethoden kaum zugänglich sind. Erst die Kombination aus moderner Technik und spezialisierter Feldarbeit brachte sie ans Licht.

An Land setzte sich die Serie fort. Mehr als dreißig neue Pflanzenarten fanden Eingang in die wissenschaftlichen Register, hinzu kamen rund vierzig Insektenarten, die zuvor niemand beschrieben hatte. Darunter ein neu entdeckter Skorpion auf der Insel La Désirade und ein Käfer von etwa einem Zentimeter Länge. Keine Monster, keine Exoten im landläufigen Sinne. Aber präzise Bausteine eines Ökosystems, dessen Vielfalt bislang unterschätzt wurde.

Besonders ergiebig erwiesen sich die südlichen Inseln des französischen Archipels. Marie-Galante etwa, lange Zeit biologisch eher Randnotiz als Forschungsschwerpunkt, entwickelte sich zu einem Hotspot der Entdeckungen. Der sogenannte Wissensindex, mit dem Fachleute den Grad der Erfassung von Arten messen, stieg dort deutlich an. Für die Wissenschaft ein messbarer Fortschritt, für die Region eine stille Sensation.

Marc Gayot, Direktor des nationalen botanischen Konservatoriums der Inseln von Guadeloupe, spricht von Ergebnissen, die gefeiert gehören. Nicht aus regionalem Stolz, sondern weil sie das Bild der lokalen Biodiversität grundlegend verschieben. Guadeloupe galt schon zuvor als artenreich. Doch wie artenreich genau, das blieb bislang eine offene Frage.

Rund zwanzig Prozent der bekannten Arten des Archipels sind endemisch, kommen also ausschließlich dort vor. Ein Wert, der Guadeloupe zu einem globalen Brennpunkt der Biodiversität macht. Gleichzeitig bedeutete das auch: Jede bislang unentdeckte Art konnte theoretisch schon gefährdet sein, ohne dass es jemand wusste. Besonders kleine, unscheinbare Organismen, die in Mangroven, feuchten Wäldern oder mikroskopischen Lebensräumen existieren, entziehen sich schnell der Aufmerksamkeit.

Genau hier setzte die Expedition an. Statt isolierter Einzelstudien verfolgte das Team einen pluridisziplinären Ansatz. Meeresbiologen arbeiteten parallel zu Bodenkundlern, Insektenexperten zu Pflanzenkundigen. Daten aus unterschiedlichen Lebensräumen flossen zusammen, ergänzt durch genetische Analysen und präzise Kartierungen. Heraus kam nicht nur eine Liste neuer Arten, sondern eine umfassende Referenzdatenbank, die künftige Forschung über Jahrzehnte prägen dürfte.

Der wissenschaftliche Wert ist enorm. Der politische ebenfalls.

Denn die neuen Erkenntnisse fallen in eine Phase, in der der Schutz der Biodiversität auf europäischer Ebene an Bedeutung gewinnt. Gerade die sogenannten Regionen in äußerster Randlage, zu denen auch die französischen Antillen zählen, stehen unter besonderem Druck. Küstenbebauung, Umweltverschmutzung, invasive Arten und die Folgen des Klimawandels setzen empfindlichen Ökosystemen zu. Wer schützen will, muss wissen, was geschützt werden soll. In dieser Hinsicht liefert die Expedition ein solides Fundament.

Dabei blieb das Projekt nicht im Elfenbeinturm der Wissenschaft. Ein bemerkenswerter Teil der Arbeit richtete sich an junge Menschen und die breite Öffentlichkeit. Mehr als 1.200 Schülerinnen, Schüler und Studierende nahmen an Workshops teil, besuchten mobile Labore, sprachen mit Forschenden direkt am Fundort. Für viele war das der erste unmittelbare Kontakt mit wissenschaftlicher Praxis. Kein Lehrbuch, kein Poster, sondern echte Forschung, mit Schlamm an den Schuhen und Salz auf der Haut.

Gerade in einem Gebiet, dessen Natur oft als touristische Kulisse wahrgenommen wird, entfaltet das eine nachhaltige Wirkung. Biodiversität wird greifbar. Sie bekommt Namen, Geschichten, Bedeutung. Und sie wird als etwas verstanden, das nicht abstrakt existiert, sondern den Alltag der Menschen vor Ort prägt.

In Zeiten ökologischer Dauerkrisen wirkt diese Expedition fast wie ein Gegenentwurf zur Resignation. Sie zeigt, dass Erkenntnisgewinn noch möglich ist. Dass es weiße Flecken auf der Landkarte gibt, selbst in vermeintlich gut erforschten Regionen. Und dass lokale Forschung globale Relevanz besitzt.

Weitere Projekte sind bereits in Planung. Noch tiefer soll gegraben, noch genauer geschaut werden. Guadeloupe hat sich als lebendiges Labor der Biodiversität erwiesen. Ein Ort, an dem Wissenschaft, Bildung und politische Verantwortung ineinandergreifen. Und vielleicht ist genau das die wichtigste Entdeckung dieser Expedition.

Autor: C.H.

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