Tag & Nacht


Es ist noch dunkel, die Stadt gähnt, und irgendwo klappert eine Thermoskanne. In Strasbourg ruht der Weihnachtsmarkt noch hinter geschlossenen Rollos. Trotzdem sammelt sich vor einem Stand eine Schlange. Still. Dicht. Beharrlich.

Worauf warten sie?
Auf eine Kugel.

Nicht irgendeine, sondern auf jene aus Meisenthal, die jedes Jahr erneut beweist, dass Zeit ein Wert bleibt. Wer hier steht, steht freiwillig. Und gern.


Morgens halb vier – und keiner fragt nach dem Warum

Der Atem malt kleine Wolken in die Kälte. Jacken rascheln. Jemand erzählt leise von der Kugel aus dem Jahr, in dem alles anders wurde. Eine andere lacht, weil sie zum dritten Mal hier ist. Traditionen entstehen selten am Reißbrett. Meist schleichen sie sich ein – so wie diese.



Der Markt öffnet erst später. Die Schlange steht trotzdem. Geduld als Eintrittskarte. Zwei Kugeln pro Person. 200 Stück am Tag. Mehr gibt es nicht.

Warum tut man sich das an?
Und warum fühlt es sich so verdammt richtig an?


Ein Objekt, das Zeit speichert

Seit 25 Jahren entsteht in Meisenthal jedes Jahr ein neues Modell. Keine grellen Farben, kein Krach fürs Auge. Stattdessen Formen, die atmen. Licht, das sich bricht. Glas, das mehr erzählt als es zeigt.

Die Preise beginnen bei 33 Euro, manche Stücke kosten 45. „Ganz schön happig“, murmelt jemand. Dann folgt ein Schulterzucken. „Aber das gehört zur Familie.“ Und plötzlich ergibt alles Sinn.

Diese Kugeln hängen nicht nur am Baum. Sie markieren Jahre. Die Kugel von 2012. Die von 2018. Die erste nach dem Umzug. Die letzte vor dem Abschied. Wer sammelt, sammelt Erinnerung.


Lokal schlägt beliebig

Ein amerikanisches Paar betrachtet die Kugel, als hielte es ein Versprechen in den Händen. „Ich nehme lieber so etwas mit als Massenware“, sagt sie. Keine Fabrik von irgendwo. Sondern ein Ort. Ein Name. Eine Geschichte.

Es existieren nur fünf Verkaufsstellen in ganz Frankreich. Diese Knappheit wirkt. Online tauchen Kugeln später für Summen auf, bei denen man schluckt. Tropfenformen erzielen bis zu 500 Euro. Und doch – wer einmal gesehen hat, wie sie entstehen, denkt anders über Weiterverkauf.


Wo Glas Sprache spricht

Meisenthal liegt in der Moselle, umgeben von Wald und Stille. Dort arbeitet das Centre International d’Art Verrier de Meisenthal. Kein Museum mit Staub, sondern ein lebendiger Ort. Glas lebt hier. Es widerspricht. Es fordert.

Über tausend Grad Hitze. Zischen. Konzentration. Die Glasmasse glüht, verzeiht nichts. Ein Moment der Unachtsamkeit, und sie erinnert daran, wer hier die Regeln setzt.

Oswald Ghilbert, einer der Meister, erklärt das Prinzip gern mit Honig. Man taucht ein, dreht, zieht Fäden. Klingt simpel. Ist es nicht. Jeder Handgriff sitzt. Millimeter entscheiden.

Vier Minuten braucht die Kugel des Jahres.
Andere Modelle verlangen fünfzehn.

Vier Minuten, in denen Jahrhunderte altes Wissen und zeitgenössisches Design zusammenfinden.


Rhythmus statt Hektik

Im Atelier herrscht eine Ruhe, die man nicht lernen kann. Schritte. Drehungen. Atem. Alles folgt einem inneren Takt. Kein Platz für Hast. Wer hier arbeitet, weiß, dass Eile der Feind ist.

90.000 Kugeln verlassen jedes Jahr die Werkstatt. Jede einzelne durchläuft Hände, die Verantwortung tragen. Vor Weihnachten sind sie alle weg. Immer.

Manchmal steht jemand am Rand und schaut zu. Lange. Wortlos. Als würde er einem alten Lied lauschen, das man fast vergessen hatte.


Warten als Teil des Werts

Ist es die Kugel, die zählt?
Oder das Warten davor?

Vielleicht beides. Vielleicht braucht Luxus wieder Zeit. Zeit, die man sich nimmt, statt sie zu kaufen. In einer Welt der Sofortverfügbarkeit wirkt eine Schlange im Morgengrauen fast trotzig. Und irgendwie tröstlich.

Wann hat man zuletzt für etwas Geduld aufgebracht, das man wirklich wollte?


Kleine Szenen, große Bedeutung

Natürlich gibt es Gelächter. Jemand verschüttet Kaffee. Ein Kind schläft im Buggy. Umgangssprache mischt sich in die Gespräche. „Wenn ich heute leer ausgehe, bin ich morgen wieder da“, sagt einer. Keiner rollt die Augen. Alle nicken.

So entstehen Rituale. Ohne Plan. Einfach passiert.


Handwerk, das bleibt

Handwerk lebt von Wiederholung. Von Übung. Von Fehlern, die man einmal macht – und nie wieder. In Meisenthal zeigt sich, wie wertvoll das ist. Nicht laut. Nicht aufdringlich. Sondern ruhig, beständig, warm.

Vielleicht erklärt genau das die Geduld der Sammler. Sie spüren, dass hier etwas bewahrt wird. Nicht konserviert, sondern weitergetragen.

Glas, das atmet.
Zeit, die bleibt.


Der Moment danach

Wenn die Kugel schließlich im Karton liegt, sorgfältig verpackt, endet der Zauber nicht. Er beginnt zu Hause. Beim Auspacken. Beim Aufhängen. Beim Erzählen.

„Weißt du noch, damals in Straßburg…“

Und jedes Jahr kommt eine dazu. Still. Verlässlich. Wie ein gutes Gespräch, das man gern fortsetzt.

Ein Artikel von M. Legrand

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