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Seit Jahren sehen sich die französischen Küstenstädte, vor allem Calais, mit einer stetig wachsenden Zahl von Migranten konfrontiert, die versuchen, das Vereinigte Königreich über den Ärmelkanal zu erreichen. Die Dringlichkeit dieser Krise ist nicht neu – doch das Jahr 2024 markiert mit mindestens 60 Todesopfern die bisher tödlichste Bilanz seit Beginn dieser gefährlichen Überfahrten im Jahr 2018. Viele Menschen sterben bei dem Versuch, die nur etwa 30 Kilometer breite Strecke nach Großbritannien in kleinen, überfüllten Booten zu überqueren. Dieser humanitäre und logistische Notfall fordert dringende Antworten, doch von Seiten der französischen Regierung bleibt es, wie mehrere Bürgermeister von Küstenorten am Ärmelkanal nun beklagen, viel zu still.

Am Freitagmorgen fand in Calais unter Leitung der Bürgermeisterin Natacha Bouchart eine erneute Krisensitzung der Küstenstädte statt, um den „stillen Rückzug“ der Regierung zu kritisieren und gemeinsam Lösungen zu erarbeiten. Diese Kommunen, die als erste die Folgen der unregulierten Migration spüren, fühlen sich oft im Stich gelassen.

Forderungen und Lösungsvorschläge der Bürgermeister

Bouchart betont, dass die Küstengemeinden dringend eine koordinierte, staatliche Unterstützung brauchen. Für diese Kommunen hat die Migrantenkrise erhebliche soziale und finanzielle Auswirkungen, die weit über das hinausgehen, was eine Stadt allein bewältigen kann. Bouchart fordert daher von der Regierung nicht nur mehr Ressourcen, sondern auch ein stärkeres politisches Engagement. Besonders problematisch ist laut Bouchart das Fehlen eines zentralen Ansprechpartners – ein „Präfekt für den Küstenbereich“, der sich speziell um Migrationsfragen kümmert, könnte hier Abhilfe schaffen.

Transportpolizei und Migrantenmission: Die Bürgermeisterin schlägt zudem die Einrichtung einer speziellen „Transportpolizei“ vor, um gefährliche Überfahrten frühzeitig zu unterbinden. Daneben fordert sie eine „Migrantenmission“, die die Bürgermeister umfassend informiert und als eine Art Bindeglied zwischen den lokalen Behörden und der zentralen Regierung fungiert. Sie hofft auf eine Struktur, die in Echtzeit über die Migration informiert und den Bürgermeistern Handlungsspielräume eröffnet. Eine stärkere Kommunikation auf allen Ebenen könnte verhindern, dass die Gemeinden auf die Schicksale und die Probleme der Migranten isoliert reagieren müssen.

Humanitäre Anlaufstellen: Ein weiterer Vorschlag sieht die Schaffung humanitärer Zentren für besonders vulnerable Gruppen, wie Frauen und Kinder, vor – sichere Orte, die jedoch geschlossen gehalten werden sollen, um unerwünschte Bewegungen zu verhindern und Schutz zu gewährleisten.

Politische Verantwortung Großbritanniens: In ihrem Appell weist Bouchart auch auf das Arbeitsrecht im Vereinigten Königreich hin, das sie als einen „Sog-Effekt“ für Migranten beschreibt. Viele hoffen auf bessere Verdienstmöglichkeiten in Großbritannien und riskieren dafür ihr Leben bei der Kanalüberquerung. Die Bürgermeisterin fordert daher Verhandlungen mit der britischen Regierung, um eine nachhaltige Lösung zu finden, und sieht es als die Pflicht Londons, sich dieser Verantwortung zu stellen.

Das „Gefühl des Verlassenwerdens“ der Küstengemeinden

Bereits im vergangenen Monat kamen 14 Bürgermeister in Calais zusammen, um ein Gefühl des „Verlassenwerdens“ durch die Regierung anzusprechen. Die mangelnde Reaktion aus Paris verstärkt das Frustrationsgefühl und hinterlässt bei den Verantwortlichen den Eindruck, dass ihre Bedürfnisse und die prekäre Lage der Migranten keine Priorität haben. „Es muss sich etwas ändern“, so die Meinung vieler – andernfalls könnten die Bürgermeister ihren Protest öffentlich in Paris zum Ausdruck bringen, sollte die Regierung bis zum anstehenden Bürgermeisterkongress am 19. November keine konkreten Schritte einleiten.

Ein Vergleich: Die deutsche Sicht auf die Migrantenkrise

Interessant ist ein Blick nach Deutschland, das ebenfalls unter hohem Migrationsdruck steht, jedoch eine etwas andere Herangehensweise verfolgt. In Deutschland wird die Migration primär über nationale Gesetze und EU-Regelungen gesteuert, und es gibt kein zentrales Äquivalent zu der geforderten Küstenpräsenz. Auch die Polizei und lokale Behörden in Deutschland haben zwar mit den logistischen Herausforderungen von Migration zu kämpfen, sind aber nicht in der gleichen Weise für die maritime Sicherheit zuständig wie ihre französischen Kollegen.

An deutschen Außengrenzen konzentriert man sich eher auf die Zusammenarbeit mit anderen EU-Staaten, um den Migrationsfluss zu regeln, und auf direkte Kontrollen. Für besonders stark belastete Bundesländer existieren ebenfalls Präfekten oder Beauftragte, jedoch fehlt eine vergleichbare Forderung nach einer polizeilichen Spezialisierung auf den Transportbereich, wie sie in Frankreich angedacht wird. Die deutsche Strategie ist mehr darauf fokussiert, die Herkunftsländer zur Zusammenarbeit zu bewegen und Abschiebungen bei Ablehnung des Asylantrags konsequent umzusetzen. Damit versucht Deutschland, weniger einseitig vorzugehen und sich auf die Ursachenbekämpfung und internationale Koordination zu konzentrieren.

Der Weg zur gemeinsamen Lösung

Angesichts der Komplexität und des humanitären Ausmaßes der Krise wird deutlich, dass Frankreichs Küstengemeinden nicht allein dastehen dürfen. Es bedarf einer europäischen Kooperation – und eines Dialogs mit Großbritannien, um die Attraktivität der riskanten Kanalüberquerungen zu minimieren. Vielleicht ist die Zeit gekommen, gemeinsame Standards für Migrationspolitik, Arbeitsrecht und Sicherheit an den Grenzen zu schaffen, die das Ziel verfolgen, den „Sog-Effekt“ zu verringern und die humanitären Bedingungen zu verbessern.

In Frankreich wie in Deutschland erfordert die Migrantenkrise umfassende Maßnahmen und entschlossenes Handeln auf verschiedenen Ebenen – von kommunal über national bis international. Womöglich sind gerade die Anstrengungen der Bürgermeister von Calais und anderen Küstenstädten ein Weckruf an die gesamte europäische Gemeinschaft, denn: Es braucht nicht nur entschlossene Worte, sondern vor allem schnelle Taten.


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