Tag & Nacht




Was Frankreich und Deutschland trennt – und was sie eint

In mehreren französischen Städten dürfen Kinder und Jugendliche nachts nicht mehr ohne Begleitung auf die Straße. Die Maßnahme zielt auf die Eindämmung von Jugendgewalt und die Prävention krimineller Karrieren. In Deutschland hingegen wäre eine solche Regelung außerhalb von Pandemien rechtlich kaum haltbar – und politisch kaum durchsetzbar. Der Vergleich zwischen den beiden Ländern offenbart nicht nur unterschiedliche Sicherheitslagen, sondern auch tiefgreifende Differenzen im Verhältnis von Staat, Gesellschaft und individueller Freiheit.

Frankreichs Reaktion auf eskalierende Jugendgewalt

In Frankreich häufen sich in jüngerer Zeit brutale Gewalttaten unter Jugendlichen. Die Reaktion der Politik ist entschlossen – wenn auch umstritten. Zahlreiche Städte, darunter Nîmes, Béziers oder Teile von Paris, haben nächtliche Ausgangssperren für Minderjährige verhängt. Kinder unter 13 oder 16 Jahren dürfen in bestimmten Vierteln nachts nur noch in Begleitung Erwachsener unterwegs sein. Die Maßnahme wird mit dramatischen Entwicklungen begründet: Auseinandersetzungen zwischen rivalisierenden Jugendbanden, zunehmende Bewaffnung im öffentlichen Raum, Angriffe auf Lehrkräfte und Sicherheitskräfte.

Die Bürgermeister der betroffenen Kommunen sehen in der Ausgangssperre ein Mittel der Prävention. Sie wollen damit verhindern, dass Jugendliche auf der Straße in kriminelle Strukturen abrutschen oder zum Ziel von Gewalt werden. Besonders in sogenannten Problemvierteln, die von hoher Arbeitslosigkeit, prekären Wohnverhältnissen und mangelnder sozialer Durchdringung geprägt sind, soll die nächtliche Ruhe als Schutzraum fungieren – für potenzielle Täter wie für potenzielle Opfer.

Gleichwohl bleibt die Maßnahme rechtlich wie praktisch umstritten. Frankreichs kommunales Polizeirecht erlaubt zwar gewisse Einschränkungen zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung, doch fehlt es oft an einer landesweit einheitlichen Handhabe. Kritiker monieren eine symbolpolitische Maßnahme ohne belegbare Wirksamkeit – zumal Kontrolle und Durchsetzung ohne massive Polizeipräsenz kaum gewährleistet sind. Auch ethisch bleibt das Konzept problematisch: Es trifft oft gerade jene jungen Menschen, die ohnehin am Rand der Gesellschaft stehen.

Deutschland: Rechtsstaatliche Zurückhaltung statt kommunaler Autorität

In Deutschland existieren außerhalb von Krisensituationen wie der Corona-Pandemie keine flächendeckenden Ausgangssperren für Jugendliche. Und selbst während der pandemiebedingten Kontaktbeschränkungen stießen solche Maßnahmen regelmäßig an juristische Grenzen. Der Grund liegt im deutschen Grundrechtsverständnis: Freiheit der Person, Gleichbehandlung und Verhältnismäßigkeit bilden hohe Hürden für generelle Aufenthaltsverbote – erst recht ohne konkreten Anlass oder individuelle Gefährdung.

Jugendschutz in Deutschland basiert stattdessen auf einem abgestuften Konzept aus Aufklärung, Altersgrenzen und sozialpädagogischer Betreuung. Das Jugendschutzgesetz regelt etwa, wie lange sich Kinder und Jugendliche in Kinos, Gaststätten oder Diskotheken aufhalten dürfen. Öffentliche Plätze hingegen unterliegen in der Regel keiner spezifischen Aufenthaltskontrolle, solange keine akute Gefahr besteht.

Vereinzelt gibt es kommunale Verordnungen, die etwa den Alkoholkonsum auf Spielplätzen oder in Parks einschränken. Eine pauschale nächtliche Ausgangssperre würde allerdings mit großer Wahrscheinlichkeit vor Verwaltungsgerichten scheitern. Auch politisch ist der Ruf nach solchen Maßnahmen selten laut – nicht zuletzt wegen historischer Sensibilität gegenüber Eingriffen in die persönliche Freiheit.

Wirkung und Nebenwirkungen: Zwischen Sicherheitsgefühl und Stigmatisierung

Die Wirksamkeit nächtlicher Ausgangssperren ist empirisch schwer zu belegen. In manchen US-amerikanischen Städten zeigten sie kurzfristig eine moderate Reduktion bestimmter Delikte. Längerfristig jedoch verschwimmen die Effekte im statistischen Rauschen. Entscheidend bleibt, ob solche Maßnahmen Teil eines kohärenten sicherheitspolitischen Gesamtkonzepts sind – oder bloß symbolische Beruhigung einer verunsicherten Öffentlichkeit.

Vor allem bergen sie das Risiko sozialer Ausgrenzung. Wer in prekären Verhältnissen aufwächst, ist ohnehin stärker von polizeilicher Kontrolle betroffen. Eine Ausgangssperre trifft dann nicht nur potenzielle Täter, sondern auch jene Jugendlichen, die schlicht keinen anderen Ort für Freizeit, Begegnung oder Rückzug haben. Zudem kann sie familiäre Spannungen verschärfen, wenn etwa Eltern aus unterschiedlichen Gründen nicht in der Lage sind, ihre Kinder zu begleiten oder zu beaufsichtigen.

In Deutschland wird dieser Aspekt meist stärker gewichtet. Der Fokus liegt hier traditionell auf Prävention durch Teilhabe: Jugendzentren, Sportvereine, schulische Sozialarbeit und offene Freizeitangebote gelten als tragende Säulen einer integrativen Jugendpolitik. Sie sind aufwändig, langfristig und nicht immer spektakulär – aber nachhaltiger als temporäre Verbote.

Gemeinsame Herausforderungen – unterschiedliche Antworten

Frankreich und Deutschland stehen vor ähnlichen gesellschaftlichen Herausforderungen: sozialräumliche Segregation, Vertrauensverlust gegenüber staatlichen Institutionen, zunehmende Gewalt unter jungen Menschen. Doch die Antworten fallen unterschiedlich aus – nicht nur wegen der unterschiedlichen Rechtslage, sondern auch aufgrund divergierender politischer Kulturen.

Frankreich setzt im Zweifel schneller auf ordnungspolitische Maßnahmen, auch als Mittel der politischen Kommunikation. Der starke Zentralstaat und seine traditionsreiche Rolle des „Maître d’ordre“ prägen das sicherheitspolitische Selbstverständnis. In Deutschland hingegen dominiert ein föderales System mit ausgeprägtem Rechtsschutz und gewachsener Skepsis gegenüber autoritären Lösungen.

Beide Länder könnten voneinander lernen: Deutschland von der französischen Entschlossenheit, Probleme nicht zu bagatellisieren – Frankreich von der deutschen Erfahrung, dass Prävention nachhaltiger wirkt als Repression. Die Ausgangssperre mag ein sichtbares Signal sein, doch echte Sicherheit entsteht durch soziale Integration, Bildung und Vertrauen. Gerade in einer polarisierten Gesellschaft ist das der klügere Weg.

Autor: Andreas M. Brucker

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