Tag & Nacht




Ein 18-jähriger Junge ist tot. Brutal zusammengeschlagen, mitten am helllichten Tag, an einem Ort, an dem Menschen normalerweise Busse nehmen, Freunde treffen, ihr Leben leben. Sein Name: Mamadou. Sein Schicksal: erschüttert eine ganze Stadt, vielleicht ein ganzes Land.

Und sofort, fast reflexartig, springt die öffentliche Debatte in ein altbekanntes Muster: “Die Täter sind bestimmt Migranten.” “Das zeigt doch, wohin die Massenzuwanderung führt.” “Man sieht ja, wie die Ghettos explodieren.”

Doch Halt. Stopp. Genau hier liegt das Problem.

Denn nicht Menschen mit Migrationshintergrund sind das Problem. Das Problem ist, dass wir sie nach jeder Gewalttat reflexartig unter Generalverdacht stellen. Als seien Herkunft oder Hautfarbe automatisch ein Nährboden für Brutalität.

Das ist nicht nur falsch – es ist gefährlich.

Gewalt hat viele Gesichter, aber kein einziges hat eine eindeutige Nationalität.

Schaut man genauer hin, zeigt sich: Es sind nicht die Migranten. Es sind Jugendliche – manche mit französischem Pass seit Generationen, andere mit ausländischen Wurzeln – die in einem Klima von Perspektivlosigkeit, sozialem Abstieg, zerbrochenen Familien und fehlender Anerkennung aufwachsen.

Natürlich ist das keine Entschuldigung für Mord und Totschlag. Aber es ist eine Erklärung für das Umfeld, das Gewalt hervorbringen kann.

Und es ist ein Umfeld, das nicht “importiert” wurde, sondern in Frankreich selbst gewachsen ist.

Warum also immer dieser Griff in die Schublade “Migration”? Weil es bequem ist. Weil es die eigentlichen Fragen verdrängt: Warum gibt es Stadtviertel, in denen Kinder schon mit 12 wissen, dass sie es nie aufs Gymnasium schaffen? Warum gibt es Jugendliche, die auf dem Arbeitsmarkt keine Chance bekommen – egal, wie sehr sie sich bemühen? Warum fühlen sich ganze Straßenzüge seit Jahrzehnten politisch abgehängt?

Es ist leichter, mit dem Finger auf eine Hautfarbe oder einen Namen zu zeigen, als auf die Gesellschaft, die diese Zustände duldet.

Natürlich gibt es Banden. Natürlich gibt es Aggressoren. Aber die Vorstellung, dass “die Migranten” per se gewalttätig seien, ist nichts anderes als ein bequemes Ablenkungsmanöver.

Die unbequeme Wahrheit lautet: Nicht Migration erzeugt Gewalt, sondern Marginalisierung.

Wer also ernsthaft etwas gegen urbane Gewalt tun will, muss in Schulen investieren, in Sozialarbeit, in Jugendzentren, in Familienhilfe. Muss Jugendliche sehen, bevor sie zu Tätern werden.

Und er muss die Sprache ändern.

Denn jedes Mal, wenn wir das Etikett “Migrationshintergrund” wie eine Brandmarke auf Täter kleben, stigmatisieren wir Millionen Menschen, die arbeiten, studieren, Familien gründen – und nie etwas mit Gewalt zu tun haben.

Wollen wir wirklich in einer Gesellschaft leben, in der ein Nachname schwerer wiegt als ein Lebenslauf?

Mamadous Tod ist ein Drama. Aber noch dramatischer wäre es, wenn er einmal mehr zum Treibstoff einer verkürzten, hasserfüllten Debatte wird. Denn die eigentliche Gewalt beginnt oft nicht mit einer Faust – sondern mit einem Wort.

Ein Kommentar von M.A.B.

Neues E-Book bei Nachrichten.fr







Du möchtest immer die neuesten Nachrichten aus Frankreich?
Abonniere einfach den Newsletter unserer Chefredaktion!