Der russische Präsident Wladimir Putin hat mit einem überraschenden Vorstoß international für Aufsehen gesorgt: Während eines Besuchs im nordrussischen Murmansk schlug er vor, die Ukraine unter eine temporäre internationale Verwaltung zu stellen. Diese Übergangsregierung solle unter Schirmherrschaft der Vereinten Nationen stehen und unter Beteiligung der USA, europäischer Länder und Russlands selbst gebildet werden. Ziel sei es, freie und demokratische Wahlen zu ermöglichen und eine neue Regierung zu etablieren, die als legitimer Gesprächspartner für Friedensverhandlungen auftreten könne.
Der Vorschlag kommt zu einem Zeitpunkt, an dem sich der russisch-ukrainische Krieg im dritten Jahr befindet und eine militärische Lösung in weite Ferne gerückt scheint. Die Reaktionen auf Putins Vorstoß sind ebenso vielschichtig wie die geopolitischen Interessen, die den Konflikt von Beginn an prägen.
Eine neue Phase des Konflikts?
Putins Initiative wirkt auf den ersten Blick wie ein Schritt in Richtung Deeskalation. Die Idee einer internationalen Verwaltung erinnert an historische Präzedenzfälle – etwa das Interimsregime im Kosovo nach 1999 –, in denen internationale Organisationen temporär Regierungsfunktionen übernahmen, um stabile politische Verhältnisse zu ermöglichen. Auch in Afghanistan und Bosnien wurden in der Vergangenheit ähnliche Modelle diskutiert oder erprobt.
Doch Putins Motivlage wirft Fragen auf. Der Zeitpunkt des Vorschlags ist nicht zufällig gewählt. Russland behauptet, in den von ihr annektierten Gebieten der Ukraine – insbesondere in Teilen der Regionen Donezk, Luhansk, Saporischschja und Cherson – weitgehende Kontrolle zu besitzen. In Wirklichkeit jedoch dauern die Kämpfe an vielen Frontabschnitten unvermindert an. Berichte über Verstöße gegen Waffenstillstandsvereinbarungen und zivile Opfer deuten darauf hin, dass die militärische Lage keineswegs stabilisiert ist. Kritiker sehen in Putins Vorstoß daher weniger ein Friedensangebot als vielmehr ein strategisches Manöver, um internationale Sanktionen zu lockern und die Ukraine politisch unter Druck zu setzen.
Die Legitimitätsfrage als Druckmittel
Ein zentrales Element von Putins Rede in Murmansk war die Infragestellung der Legitimität des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj. Putin argumentierte, dessen Amtszeit sei formal abgelaufen, und suggerierte, dass es daher an einer international anerkannten Führung in Kiew mangele. Dabei ignoriert er jedoch, dass die ukrainische Verfassung in Kriegszeiten eine Verlängerung der Amtszeit des Präsidenten vorsieht – ein Umstand, den westliche Staaten und Rechtsexperten als rechtlich gedeckt ansehen.
Putin scheint mit dieser Argumentation darauf abzuzielen, die politische Autorität Selenskyjs zu delegitimieren und die Ukraine auf internationaler Bühne als führungslos erscheinen zu lassen. In diesem Kontext erhält auch die Einladung an die USA – und insbesondere der positive Verweis auf Donald Trump – eine neue Dimension. Putin bezeichnete den US-Präsidenten als „aufrichtigen Friedensstifter“ und äußerte die Hoffnung, dass dieser den Vorschlag unterstützen werde.
Reaktionen in Kiew und im Westen
In der Ukraine stieß der Vorschlag erwartungsgemäß auf heftige Ablehnung. Präsident Selenskyj warnte davor, den internationalen Druck auf Russland zu verringern. Ein Sprecher der ukrainischen Regierung nannte den Plan einen „Versuch, die Souveränität der Ukraine zu untergraben und russische Kriegsgewinne zu legitimieren“. Auch Vertreter westlicher Staaten äußerten sich skeptisch. Die Sorge: Eine internationale Übergangsregierung unter Einbeziehung Russlands könnte als Einfallstor für eine politische Einflussnahme dienen, die Moskaus Interessen langfristig in der Ukraine verankert.
Tatsächlich steht hinter dem Vorschlag ein zentraler Widerspruch: Während Russland die territoriale Integrität der Ukraine verletzt hat, verlangt es nun Mitspracherechte bei der Bildung einer Übergangsregierung, deren Zweck es sein soll, Demokratie und Souveränität wiederherzustellen. Kritiker erkennen darin ein Paradox – oder eine bewusste Strategie zur Spaltung des Westens und zur Schwächung des ukrainischen Widerstandswillens.
Eine echte Chance oder ein taktisches Manöver?
Internationale Stimmen rufen dennoch zu einer differenzierten Bewertung auf. In diplomatischen Kreisen wird betont, dass jede noch so unerwartete Initiative die Möglichkeit eines politischen Gesprächs eröffnen könne – sofern die Bedingungen glaubwürdig und transparent seien. Ein möglicher Verhandlungspfad könnte darin bestehen, dass Russland sich zu einem schrittweisen Truppenabzug verpflichtet und im Gegenzug eine internationale Übergangsregierung mit klaren zeitlichen und funktionalen Grenzen akzeptiert wird. Doch die Erfahrung lehrt: Ohne gegenseitiges Vertrauen und Sicherheitsgarantien sind solche Modelle kaum realisierbar.
Die Frage, ob Putin tatsächlich an einem stabilen Frieden interessiert ist oder lediglich versucht, durch diplomatische Nebelkerzen Zeit zu gewinnen und geopolitische Positionen zu sichern, bleibt offen. Das Misstrauen auf ukrainischer und westlicher Seite ist tief. Dennoch zeigt der Vorstoß, dass Moskau durchaus bemüht ist, das Narrativ vom kompromissbereiten Akteur zu pflegen – möglicherweise mit Blick auf eine neue geopolitische Konstellation nach den US-Wahlen.
Ein entscheidender Punkt wird sein, ob China, die Türkei oder andere Länder außerhalb des Westens bereit wären, einen solchen Übergangsprozess mitzutragen. Nur ein breites internationales Mandat könnte verhindern, dass die Idee einer UN-Verwaltung zur Farce verkommt. Ebenso wird sich zeigen müssen, ob die Vereinten Nationen überhaupt die Kapazitäten und das politische Mandat aufbringen können, ein solch sensibles Projekt zwischen Kriegspartei und Opferstaat zu moderieren.
Während Putin den Vorstoß als Geste der Offenheit verkauft, sieht Kiew darin einen Versuch, die Ukraine zu entmündigen. Wie sich dieser Balanceakt in den kommenden Wochen entwickelt, hängt entscheidend von den Reaktionen in Washington, Brüssel und Peking ab. Klar ist nur: Der Krieg in der Ukraine wird längst nicht nur mit Waffen geführt – sondern zunehmend auch mit diplomatischen Offensiven, deren Absichten schwer zu durchschauen sind.
Von Andreas Brucker
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