Es ist ein Bild, das man nicht mehr aus dem Kopf bekommt: Eine einsamer Tretroller, verrostet und halb versunken, liegt zwischen Flusskieseln am Grund der Rhône. Daneben ein alter Computer-Tower, Kabelsalat, Fahrradschlösser, Uhren, sogar eine Hundeleine. Dinge, die man eher auf einem Sperrmüllhaufen erwartet – und nicht auf dem Grund eines der größten Flüsse Europas.
Doch genau hier, mitten im Herzen Frankreichs, hat sich die Rhône zu einer traurigen Müllautobahn entwickelt. Nicht weil niemand hinschaut. Sondern, weil der Fluss seit Jahren mehr mit sich schleppt, als er tragen kann.
Freiwillige im Kampf gegen den Müll
Einmal im Monat machen sich Freiwillige mit Neoprenanzügen und Sauerstoffflaschen auf den Weg in die Tiefe. Ziel: Mülltauchen. Und das nicht zum Spaß, sondern aus bitterem Ernst. Seit acht Jahren sind sie unterwegs – Zentimeter für Zentimeter, Meter für Meter. Die NGO Odysseus leistet hier Pionierarbeit. Was sie zutage fördern, klingt absurd und tragisch zugleich: Reste studentischer Ausweise, E-Scooter, Uhren, Kinderschuhe. Ein Flohmarkt unter Wasser.
Dabei geht es längst nicht nur um das Sichtbare. Der wahre Gegner ist viel kleiner – und gefährlicher.
Mikroplastik: Die unsichtbare Bedrohung
Winzige Partikel, kleiner als fünf Millimeter, treiben unbemerkt durch das Wasser. Sie entstehen, wenn Kunststoff zerfällt – über Monate, Jahre, Jahrzehnte. Man sieht sie nicht. Man riecht sie nicht. Aber sie sind da.
Und das in beunruhigendem Ausmaß.
Die Rhône ist heute einer der am stärksten mit Mikroplastik belasteten Flüsse Europas. Wissenschaftler haben herausgefunden, dass sich an diesen winzigen Partikeln nicht nur Schadstoffe anlagern – sondern auch Bakterien. Krankheitserreger, die durch das Wasser transportiert werden und womöglich eines Tages über die Nahrungskette wieder bei uns und in uns landen.
Die Vorstellung ist erschreckend – aber real.
Der Fluss, der alles schluckt
Ein Fluss ist kein stilles Gewässer. Er fließt, bewegt sich, trägt mit sich, was ihm begegnet. Und wenn ihm etwas begegnet, das nicht dorthin gehört, nimmt er es trotzdem mit. Mal ist es eine Plastikflasche, mal ein Einkaufskorb, mal ein ganzer Müllsack. Die Strömung kennt keine Mülltrennung.
Besonders an der Mündung der Saône in die Rhône zeigt sich das Problem mit voller Wucht: Plastikflaschen, Schuhe, Schwimmkörper – eine schwimmende Müllinsel im Kleinformat. Der Fluss hat keine Wahl. Er ist zum Transportsystem geworden – nicht für Menschen oder Güter, sondern für Abfall.
Dabei ist Lyon nur ein Brennpunkt unter vielen. Der ganze Fluss, von den Alpen bis ins Mittelmeer, ist betroffen. Und mit ihm die Natur, die Städte, die Menschen entlang seines Ufers.
2027: Die Uhr tickt
Die EU fordert: Bis 2027 sollen alle europäischen Gewässer in einem „guten ökologischen und chemischen Zustand“ sein. Das ist kein Wunschtraum – sondern Gesetz. Für den Fluss Rhône bedeutet das: Großreinemachen. Und zwar schnell.
Denn mit jedem Tag, an dem nichts passiert, sinkt mehr Plastik auf den Grund. Mit jedem Regenguss, der Abfälle von den Straßen spült, landet mehr Unrat im Fluss. Mit jedem fahrlässigen Moment, in dem eine Wasserflasche achtlos weggeworfen wird, wächst der Müllberg weiter.
Und dann?
Dann wird der Fluss, der einst Lebensader war, zur toxischen Erinnerung an unser Versagen.
Wie weiter?
Die Lösung? Sie ist unbequem. Aber notwendig.
Weniger Verpackung, weniger Wegwerfmentalität, mehr Verantwortung. Politisch, wirtschaftlich, gesellschaftlich. Es braucht stärkere Kontrollen für Industrieabfälle, bessere Filtersysteme an Kläranlagen, entschlossene Gesetzgebung gegen Mikroplastik. Und es braucht Bewusstsein – bei jedem Einzelnen.
Denn solange wir den Fluss als Entsorgungsweg betrachten, wird er uns irgendwann das Wasser abgraben.
Wie viele Uhren müssen noch am Grund liegen, bevor wir den Ernst der Zeit begreifen?
Autor: Andreas M. Brucker
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