Der 25. September 2025 markiert einen Wendepunkt in der französischen Rechtsgeschichte. An diesem Tag verurteilte das Pariser Strafgericht Nicolas Sarkozy zu fünf Jahren Haft wegen „Bildung einer kriminellen Vereinigung“ im Zusammenhang mit dem mutmaßlich libyschen Finanzierungssystem seiner Präsidentschaftskampagne von 2007. Drei Jahre der Strafe sind unbedingt zu verbüßen, zudem ordnete das Gericht einen Haftbefehl mit aufgeschobenem Vollzug an. Sarkozy ist damit der erste ehemalige Präsident der Fünften Republik, der in einem derart gewichtigen Verfahren zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wird.
Ob diese Entscheidung tatsächlich eine „historische“ Wende darstellt oder eher die Zuspitzung einer seit Jahren absehbaren Entwicklung, ist die entscheidende Frage.
Ein symbolträchtiger, aber nicht singulärer Vorgang
Die Schwere des Urteils und die politische Fallhöhe sind unbestreitbar. Gleichwohl fügt sich die Verurteilung in eine Serie von Verfahren, die Sarkozy in den vergangenen Jahren eingeholt haben. Schon 2021 wurde er wegen illegaler Telefonüberwachung verurteilt, 2023 bestätigte das Kassationsgericht diese Entscheidung endgültig: drei Jahre Haft, davon ein Jahr unbedingt – vollzogen unter elektronischer Aufsicht. Auch im sogenannten Bygmalion-Prozess um überhöhte Ausgaben seiner Kampagne 2012 erhielt er eine Strafe.
Diese Präzedenzfälle zeigen: Der Nimbus der Unantastbarkeit ehemaliger Präsidenten ist längst erodiert. Anders als in den frühen Jahrzehnten der Fünften Republik, in denen gerichtliche Schritte gegen Staatsoberhäupter kaum denkbar schienen, wird heute auch an höchster Stelle juristisch nachgefasst. Der Fall Sarkozy ist deshalb nicht gänzlich revolutionär, sondern eher die Kulmination einer längeren Entwicklung, die Frankreichs Justiz eine neue Unabhängigkeit bescheinigt.
Neu ist die Härte des Vollzugs
Das wirklich Außergewöhnliche an der aktuellen Entscheidung liegt weniger in der bloßen Verurteilung als in den Modalitäten. Das Gericht ordnete die sofortige Vollstreckung an: Ein Berufungsverfahren hat keine aufschiebende Wirkung, Sarkozy wird zu einem noch zu bestimmenden Termin zur Verbüßung der Strafe geladen. Diese Kombination aus Exekutionsdruck und fehlendem Schutz durch Berufung ist für ein ehemaliges Staatsoberhaupt in Frankreich beispiellos.
Damit sendet die Justiz ein deutliches Signal: Die Spitzenpolitik kann sich nicht länger auf juristische Verzögerungstaktiken oder auf symbolische Strafen verlassen. Insofern wohnt dem Urteil tatsächlich ein Moment der Zäsur inne.
Offene Fragen und juristische Unsicherheiten
Doch auch dieser scheinbare Durchbruch ist mit Relativierungen behaftet. Sarkozy hat Berufung eingelegt, und damit bleibt die Unschuldsvermutung in der Rechtsmittelinstanz bestehen. Außerdem wurde er von mehreren Anklagepunkten – unter anderem der passiven Korruption – freigesprochen. Dies deutet darauf hin, dass die Beweisführung in der Libyen-Affaire komplex und nicht in allen Punkten wasserdicht ist.
Hinzu kommen Faktoren wie Alter, Gesundheitszustand und mögliche Formen des Strafvollzugs. Französische Gerichte gewähren bei älteren Verurteilten häufig Erleichterungen – von elektronischer Überwachung bis hin zu medizinisch begründeten Aufschüben. Ob Sarkozy tatsächlich bald hinter Gittern sitzt, bleibt also abzuwarten.
Politische Sprengkraft
Juristisch ist der Fall noch nicht abgeschlossen, politisch aber längst hochexplosiv. Für viele Gegner Sarkozys ist die Verurteilung der Beleg für eine überfällige Abrechnung mit korrupten Praktiken. Für seine Anhänger hingegen ist sie der Inbegriff einer „politisierten Justiz“. Die konservative Rechte, ohnehin in einer Phase der Neuorientierung zwischen moderaten Kräften und rechtsnationalen Strömungen, könnte durch den Fall weiter fragmentiert werden.
Zudem wirkt die Affäre international. Der Vorwurf, Sarkozy habe libysche Gelder von Muammar al-Gaddafi angenommen, berührt nicht nur Fragen der Parteienfinanzierung, sondern auch die Legitimität französischer Außenpolitik der 2000er-Jahre. Frankreich muss sich der Frage stellen, wie eng politische Entscheidungen mit zweifelhaften Finanzströmen verknüpft waren.
Ein Lehrstück über die Reife der Republik
Ob man das Urteil als „historisch“ bezeichnen will, hängt davon ab, welchen Maßstab man anlegt. Ein Bruch mit der Vergangenheit ist es insofern, als dass ein Ex-Präsident mit realem Freiheitsentzug konfrontiert ist. In der breiteren Perspektive ist es jedoch eher eine Eskalationsstufe in einem Prozess, der seit den 2000er-Jahren sichtbar ist: die schrittweise Normalisierung, dass höchste Amtsträger vor Gericht gestellt werden können.
Entscheidend wird sein, ob das Verfahren in der Berufung standhält und ob die Vollstreckung konsequent umgesetzt wird. Erst dann wird sich zeigen, ob die französische Justiz tatsächlich eine neue Schwelle überschritten hat – hin zu einer effektiven Gleichheit vor dem Gesetz, die das Fundament jeder Demokratie darstellt.
Autor: Andreas M. Brucker
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