Tag & Nacht


Ein weißer Schleier hat sich über Gérardmer gelegt – mitten im November. Die Vogesen zeigen sich in festlichem Kleid, Wochen vor Weihnachten. Und mit dem ersten Schnee beginnt ein Schauspiel, das Jahr für Jahr dieselbe Wirkung entfaltet: Die Menschen strömen hinaus.

Was für die einen ein Verkehrsproblem ist, bedeutet für die anderen pure Vorfreude. Schon frühmorgens ziehen die Schneepflüge ihre Bahnen durch die Straßen der Kleinstadt, gefolgt von Nachbarn mit Schneeschaufeln – und breitem Grinsen im Gesicht.

„Das macht was mit den Leuten“, sagt eine Anwohnerin, während sie ihre Einfahrt vom frischen Schnee befreit. „Oft sieht man sich kaum – aber wenn Schnee fällt, trifft man sich beim Schneeschippen.“ Ein einfacher Satz, der viel verrät über den sozialen Kitt, den Schnee manchmal liefern kann.

Etwa fünf Zentimeter sind in der Nacht gefallen. Und das ist erst der Anfang.

Weiße Pracht statt Novembergrau

Nicht nur in den Vogesen, auch in weiten Teilen Frankreichs sorgt das Winterwetter für Aufsehen. Von den Alpen bis zur Normandie melden mehr als 50 Départements Schneefall oder Glätte. Météo-France hat entsprechende Warnungen ausgegeben – nicht ohne Grund. Die Straßenverhältnisse ändern sich von Stunde zu Stunde.

Doch in Gérardmer überwiegt die Freude. Besonders unter jenen, die lange auf genau diesen Moment gewartet haben. „Endlich!“, sagt ein junger Mann, der mit seinem Van aus Meurthe-et-Moselle angereist ist. „Bei uns in der Nähe von Nancy ist noch alles grün.“ Kaum war Schnee in der Wetterprognose angesagt, hat er kurzerhand Rucksack, Schneeschuhe und Thermoskanne gepackt – und ist losgefahren.

Wanderlust auf Schneeschuhen

Zehn Zentimeter Schnee reichen zwar noch nicht für den Skibetrieb – aber für erste Touren durch den Winterwald allemal. „Wir haben nur darauf gewartet“, erzählt ein Pärchen, das auf Schneeschuhen durch den frischen Pulverschnee stapft. „Als wir gehört haben, dass Schnee fällt, war klar: Wir schnappen uns den Bus und sind weg!“

Diese spontane Schneeliebe zeigt, wie stark das Bedürfnis nach Natur, Bewegung und einer kleinen Flucht aus dem Alltag ist. Gerade wenn die Tage kürzer werden, ist ein bisschen Wintermärchen willkommener Ausgleich zur grauen Routine.

Nicht alle tanzen im Schnee

Trotz der Begeisterung gibt es auch skeptische Stimmen. „Für meinen Geschmack kommt der Winter etwas zu früh“, sagt ein älterer Herr und zieht seine Jacke enger. „Ein paar Wochen mehr Herbst wären mir lieber gewesen.“ Und tatsächlich – im Vergleich zu den vergangenen Jahren hat sich der erste Schneefall diesmal früher eingestellt.

Ob das ein Vorbote für einen langen Winter ist? Niemand weiß es. Aber manche hoffen genau darauf. „Ich wünsche mir einfach mal wieder eine richtige Saison“, meint eine Anwohnerin und blickt erwartungsvoll in den Himmel.

Ein ganz eigener Zauber

Was macht diesen frühen Schneefall so besonders?

Vielleicht ist es der Überraschungseffekt. Der Kontrast zwischen goldenem Herbstlaub und frischem Schnee. Oder das Kindliche, das plötzlich wieder in einem auflebt, wenn die Welt unter einer weißen Decke verschwindet.

Vielleicht liegt es aber auch daran, dass Schnee heute nicht mehr selbstverständlich ist. Klimawandel, Temperaturrekorde, trockene Winter – all das nagt am Bild vom klassischen Winter. Wenn dann doch mal Schneeflocken fallen, ist das fast schon ein Ereignis.

Vorsicht ist trotzdem geboten

So schön der erste Schnee auch ist – er bringt Herausforderungen mit sich. Glatte Straßen, eingeschränkte Sicht und plötzlich auftretende Frostperioden können riskant sein. Die Behörden mahnen zur Vorsicht, insbesondere in höher gelegenen Regionen. Wer ins Gebirge fährt, sollte passende Ausrüstung und Winterreifen mitbringen – ganz gleich, wie romantisch die weiße Landschaft wirkt.

Die gute Nachricht: Laut Prognosen bleibt das winterliche Wetter mindestens bis zum Wochenende bestehen. In Gérardmer und Umgebung heißt das: Noch ein paar Tage Winteridylle, bevor vielleicht wieder Tauwetter einsetzt.

Der erste Schnee – mehr als nur Wetter

Die ersten Schneeflocken haben eine besondere Kraft. Sie stoppen den Alltag, bringen Menschen zusammen, schaffen Erinnerungen – ob beim Schneeschippen mit dem Nachbarn, bei einer spontanen Tour mit Schneeschuhen oder beim stillen Blick aus dem Fenster.

Was bleibt? Vielleicht die Erkenntnis, dass Wetter mehr ist als ein Naturphänomen. Es beeinflusst Stimmungen, weckt Erwartungen – und macht selbst den trübsten Novembertag zu etwas Besonderem.

Autor: C.H.

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