Tag & Nacht




Es war ein sonniger Frühlingstag in Marseille, als sich am 27. Mai 2025 eine weitere Tragödie abspielte, die die zweitgrößte Stadt Frankreichs erschütterte. Vor einem bekannten Drogenumschlagplatz im 14. Arrondissement eröffneten zwei Bewaffnete das Feuer auf eine Gruppe von Jugendlichen. Ein 14-jähriger Junge verlor dabei sein Leben – zwei weitere Kinder, 14 und 8 Jahre alt, wurden verletzt. Wie konnte es so weit kommen?

Tod vor der Haustür

Der erschossene Junge hatte keine Vorstrafen, war kein polizeibekannter Dealer. Er stand möglicherweise einfach zur falschen Zeit am falschen Ort. Die Angreifer zielten offenbar gezielt – ein kaltblütiger Anschlag, mitten am Tag. Für die Bewohner des Viertels ist es leider kein Einzelfall. Sie leben mit der ständigen Angst, dass auch ihre Kinder Opfer dieser Gewaltspirale werden könnten.

Der 14-jährige und das 8-jährige Kind, die verletzt wurden, schweben glücklicherweise nicht in Lebensgefahr. Aber die seelischen Wunden – die sind unsichtbar und oft noch viel tiefer. Wie erklärt man einem Achtjährigen, dass er beinahe auf offener Straße erschossen worden wäre?

Immer jünger, immer brutaler

Marseille ist längst ein Synonym geworden für das, was Experten „ultrarajeunissement“ nennen: die immer frühere Rekrutierung von Kindern durch Drogenkartelle. Jugendliche im Grundschulalter übernehmen Botengänge, dienen als Späher – oder halten sogar selbst Waffen in der Hand.

In einem erschreckenden Tempo verschmilzt Kindheit mit krimineller Realität. Einem 14-Jährigen wird eine Pistole in die Hand gedrückt und gesagt: „Mach deinen Job.“ Was wie ein Gangsterfilm klingt, ist für viele Jugendliche bittere Realität – mit tödlichem Ausgang.

Polizeieinsätze ohne Wirkung?

Ja, es gibt Polizeiaktionen. Razzien, Durchsuchungen, Festnahmen. Aber sie gleichen dem berühmten Kampf gegen Windmühlen. Jeder zerschlagene Drogenring wird ersetzt – schneller, effizienter, brutaler. Und oft durch noch jüngere Rekruten.

In den nördlichen Stadtteilen von Marseille – insbesondere im 13. und 14. Arrondissement – herrscht ein Klima der Angst. Anwohner berichten von Schüssen in der Nacht, von brennenden Rollern, von Maskierten mit Sturmhauben. Die Gewalt ist kein Schatten mehr – sie steht mitten auf der Straße.

Hoffnung oder Ohnmacht?

Trotz all dieser düsteren Entwicklungen gibt es auch Stimmen, die sich nicht mit der Situation abfinden. Sozialarbeiter, Lehrer:innen, engagierte Nachbarn – sie kämpfen mit Herz und Verstand um jeden einzelnen Jugendlichen.

Doch ihre Mittel sind begrenzt. Die öffentlichen Gelder – oft ein Tropfen auf den heißen Stein. Die politischen Lösungen? Viel Papier, wenig Veränderung. Wo sind die großangelegten Präventionsprogramme? Wo bleiben Mentoren, Freizeitangebote, Bildungsinitiativen, die den Kids Alternativen zeigen?

Eine Gesellschaft am Scheideweg

Diese Tat zeigt wieder einmal, wie dringend eine umfassende Strategie gegen Drogenkriminalität nötig ist – aber nicht nur mit Schlagstöcken und Einsatzwesten. Es braucht Aufklärung, Perspektiven, echte Chancen.

Denn am Ende geht es um mehr als um Statistiken. Es geht um Kinder, die zur Schule gehen sollten, nicht zur Beerdigung eines Freundes. Es geht um Familien, die wieder Hoffnung schöpfen wollen – in einer Stadt, die viel zu lange schon Opfer von Drogenkriminalität und tödlicher Gewalt ist.

Wie viele Kinder müssen noch sterben, bevor sich wirklich etwas ändert?

Von Andreas M. Brucker

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