Tag & Nacht


Manchmal genügt ein Perspektivwechsel, um festgefahrene Probleme zu lösen. In der Île-de-France kommt er nun buchstäblich von oben.

Am Samstag, dem 13. Dezember 2025, hat die Region den ersten urbanen Seilbahnverkehr der Pariser Metropole eingeweiht. Der Name klingt nüchtern, fast technisch: Câble C1. Doch hinter diesen beiden Zeichen verbirgt sich ein Projekt, das den Alltag zehntausender Menschen im Südosten des Départements Val-de-Marne grundlegend verändern dürfte. Vier Komma fünf Kilometer lang, schwebend über Straßen, Gleise und Industrieflächen hinweg, verbindet die neue Linie bislang schlecht angebundene Kommunen mit dem Herz des öffentlichen Verkehrsnetzes.

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Was andernorts nach futuristischer Spielerei aussieht, erweist sich hier als erstaunlich pragmatische Antwort auf ein altes Problem.

Der Câble C1 verbindet Créteil – Pointe du Lac, den Endpunkt der Metro-Linie 8, mit Villeneuve-Saint-Georges – Villa Nova. Dazwischen liegen Limeil-Brévannes und Valenton – Städte, die seit Jahrzehnten unter ihrer verkehrstechnischen Randlage leiden. Autobahnen schneiden Stadtviertel voneinander ab, Bahnanlagen bilden Barrieren, großflächige Logistikzonen blockieren jede klassische Linienführung. Busse schlängelten sich mühsam durch diese urbane Topografie, Fahrzeiten von über vierzig Minuten galten als normal.

Jetzt dauert dieselbe Strecke rund 18 Minuten.

Für viele Bewohner fühlt sich das an wie ein Quantensprung. Eine Kabine gleitet alle 23 bis 30 Sekunden heran, leise, verlässlich, ohne Stau, ohne Ampeln. Bis zu 11.000 Fahrgäste täglich sollen so befördert werden. Keine Revolution im Maßstab der RER, aber eine spürbare Entlastung für einen Raum, der lange übersehen wurde.

Die Entscheidung für eine Seilbahn fiel nicht aus Spieltrieb. Ein klassischer U-Bahn-Bau hätte hunderte Millionen Euro mehr verschlungen, jahrelange Baustellen mit sich gebracht und das Projekt politisch wie finanziell blockiert. Stattdessen investierten Region, Département Val-de-Marne, Staat und Europäische Union gemeinsam 138 Millionen Euro – viel Geld, aber eines mit kalkulierbarem Risiko.

Die Logik dahinter wirkt beinahe bodenständig: Warum in den Untergrund graben, wenn sich Hindernisse elegant überfliegen lassen?

International gilt der urbane Seilbahnverkehr längst nicht mehr als exotisch. In lateinamerikanischen Metropolen, aber auch in europäischen Städten, dient er als Ergänzung zu bestehenden Netzen, besonders dort, wo Flüsse, Schnellstraßen oder Bahnknoten klassische Trassen unmöglich machen. Der Câble C1 folgt genau diesem Prinzip – kein Ersatz, sondern ein Bindeglied.

Im Alltag zeigt sich das in vielen kleinen Details. 105 Kabinen, jeweils für zehn Personen, sorgen für einen kontinuierlichen Fluss. Der Einstieg erfolgt ebenerdig, ohne Stufen, ohne Hektik. Rollstuhlfahrer, Eltern mit Kinderwagen, Radfahrer – alle finden Platz. Das Ticket? Ein ganz normales. Navigo reicht. Kein Sondertarif, kein technischer Schnickschnack, der abschreckt.

Betrieben wird die Linie von Transdev, einem erfahrenen Akteur im französischen Nahverkehr. Auch das ist ein Signal: Hier geht es nicht um ein Experiment, sondern um einen regulären Bestandteil des Netzes.

Doch die eigentliche Bedeutung des Projekts liegt jenseits der Technik. In Limeil-Brévannes oder Valenton sprechen viele von einem neuen Gefühl der Zugehörigkeit. Wer morgens schneller zur Arbeit kommt, wer abends nicht mehr auf den letzten Bus hoffen muss, dessen Verhältnis zur Metropole verändert sich. Mobilität ist mehr als Fortbewegung – sie entscheidet über Jobchancen, Bildungswege, soziale Teilhabe.

Ein Anwohner formulierte es bei der Eröffnung so: „Wir hängen nicht mehr am Ende der Karte.“

Politisch ist der Câble C1 das Ergebnis eines langen Atems. Erste Planungen begannen bereits 2016, damals noch unter anderem Namen. Es folgten Bürgerdebatten, Umweltstudien, Einwände, Anpassungen. Jahre vergingen, in denen das Projekt immer wieder infrage stand. Dass es nun realisiert wurde, gilt vielen als Beweis dafür, dass Infrastrukturpolitik auch jenseits der großen Prestigeprojekte funktionieren kann.

Natürlich bleibt Kritik nicht aus. Skeptiker warnen vor einer zu starken Fokussierung auf spektakuläre Lösungen, während das Rückgrat des Regionalverkehrs – RER, Transilien, klassische Buslinien – vielerorts weiter unter Druck steht. Eine Seilbahn, so das Argument, ersetze keine strukturelle Modernisierung des Netzes.

Der Einwand ist nicht von der Hand zu weisen. Doch er übersieht, dass der Câble C1 nie als Allheilmittel gedacht war. Er füllt eine Lücke, dort, wo andere Systeme an physische und finanzielle Grenzen stoßen. Nicht mehr, aber eben auch nicht weniger.

In der Region Paris werden weitere Seilbahnprojekte diskutiert, etwa im Nordosten oder rund um große Verkehrsknoten. Ob sie umgesetzt werden, bleibt offen. Der Erfolg des Câble C1 dürfte dabei als Referenz dienen – nüchtern bewertet, an Fahrgastzahlen gemessen, an Akzeptanz im Alltag.

Am Ende schwebt der Câble C1 über Straßen und Gleisen, fast unscheinbar. Keine lauten Motoren, kein Dröhnen, eher ein leises Gleiten. Vielleicht liegt genau darin seine Stärke. Er will nicht beeindrucken. Er will verbinden.

Und manchmal reicht das schon.

Von C. Hatty

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