Tag & Nacht




Spanien erlebt derzeit einen bemerkenswerten Aufschwung. Tourismus-Boom, klug genutzte EU-Gelder, Zuwanderung und Reformen haben das Land aus der langen Nachkrisen-Tristesse katapultiert. Während andere europäische Staaten stottern, meldet Madrid Wachstumszahlen, die überraschen. Doch wie nachhaltig ist dieses Modell – und könnte auch Frankreich davon profitieren?

Ein Land, das wieder Fahrt aufnimmt

Ein Spaziergang durch die Altstadt von Sevilla, Madrid oder Barcelona verrät mehr über Spaniens Konjunktur als jede Statistik. Übervolle Restaurant-Terrassen, gut besuchte Hotels, volle Züge – der Tourismus ist zurück. Millionen Besucher strömen ins Land, und die Einnahmen sprudeln. Aber es geht tiefer: Auch Dienstleistungen mit höherer Wertschöpfung, der Export von Industriegütern und eine engere Einbindung in europäische Lieferketten geben Rückenwind. Spanien setzt nicht nur auf Sonne und Sangría, sondern auch auf Hightech und Industrie.

Der Faktor Mensch: Immigration als Motor

Während viele Länder über eine schrumpfende Bevölkerung klagen, wächst Spaniens Einwohnerzahl kräftig – vor allem dank Zuwanderung. 2024 kamen fast eine halbe Million Menschen hinzu, ein erheblicher Teil davon erwerbstätig. Sie schließen Lücken in Bauwirtschaft, Hotellerie, Transport oder Dienstleistungen. Wer schon einmal erlebt hat, wie schwierig es in Frankreich sein kann, kurzfristig Handwerker zu finden, versteht schnell, warum Spanien hier flexibler wirkt. Die Zuwanderung stärkt nicht nur den Arbeitsmarkt, sondern auch die Kaufkraft im Land.

Geld aus Brüssel: schnell und zielgerichtet

Noch ein Erfolgsgeheimnis: der flinke Einsatz europäischer Hilfsgelder. Während Frankreich oft über komplizierte Verfahren und seine eigene Bürokratie stolpert, hat Spanien die Mittel aus dem EU-Programm NextGenerationEU rasch in Projekte gelenkt. Ob Energiewende, Digitalisierung oder Infrastruktur – die Investitionen erhöhen langfristig die Wettbewerbsfähigkeit. Man könnte fast sagen: Wo Frankreich noch diskutiert, hat Spanien bereits ausgeschrieben.

Flexibler Arbeitsmarkt, vorsichtige Haushaltsführung

Auch auf dem Arbeitsmarkt hat Spanien Stellschrauben gedreht. Verträge sind flexibler geworden, Unternehmen können schneller einstellen – und anpassen. Das senkt die Hemmschwelle, neues Personal aufzunehmen. Hinzu kommt: Trotz weiterhin bestehender Defizite bleibt die Haushaltsdisziplin im Vergleich zu anderen Euroländern solide. Wachstum bringt zusätzliche Steuereinnahmen, die das Bild abrunden.

Aber: Schattenseiten inklusive

Doch das Erfolgsrezept hat bittere Zutaten. Die Abhängigkeit vom Tourismus bleibt riskant – eine Pandemie oder ein globaler Reisestopp würden sofort Löcher reißen. Zudem gilt: Viele Jobs sind schlecht bezahlt, Arbeitsverhältnisse oft unsicher. Wer sich in Madrid eine Wohnung sucht, stößt schnell an Grenzen. Hohe Nachfrage durch Zuwanderung und Tourismus treibt die Preise, sozialer Sprengstoff inklusive. Spaniens Modell wirkt dynamisch, aber auch fragil.

Frankreich: Inspiration statt Kopie

Was also könnte Frankreich aus der spanischen Erfahrung mitnehmen – und was besser meiden?

1. Demografie bewusst steuern.
Anstatt die Debatte über Migration ausschließlich mit Blick auf Identität und Kultur zu führen, könnte Frankreich stärker auf die ökonomische Dimension schauen. Gezielt gesteuerte Einwanderung, schnelle Integration in den Arbeitsmarkt und Anerkennung von Qualifikationen wären ein Gewinn für alle Seiten.

2. EU-Mittel endlich schneller nutzen.
Frankreich verfügt über beträchtliche Ressourcen – doch Verfahren sind langwierig, Zuständigkeiten unklar. Spanien zeigt: Tempo und strategische Fokussierung bringen mehr als kleinteilige Pilotprojekte.

3. Ein Arbeitsmarkt mit Balance.
Frankreich muss keinen „Mini-Job-Boom“ kopieren, wohl aber über mehr Beweglichkeit nachdenken. Flexibilität für Unternehmen kombiniert mit echten Sicherheiten für Beschäftigte – das wäre eine modernisierte „Flexisécurité“.

4. Wachstum breiter aufstellen.
Frankreichs Stärke liegt weniger im Tourismus als in Industrie, Kultur und Innovation. Ziel muss sein, diese Sektoren stärker zu vernetzen und international sichtbarer zu machen.

5. Haushaltsdisziplin mit Augenmaß.
Auch Paris spürt den Druck steigender Sozialausgaben. Wachstum kann helfen, doch es braucht klare Prioritäten. Investitionen in Zukunftsbranchen dürfen nicht in kurzfristiger Konsumförderung versickern.

Zwischen Bewunderung und Realität

Das spanische Modell weckt Neugier – wie ein Nachbar, der plötzlich blendend gut dasteht. Doch Frankreich darf sich nicht blenden lassen: Eine bloße Kopie würde nicht funktionieren. Zu unterschiedlich sind Traditionen, Institutionen und gesellschaftliche Erwartungen. Die eigentliche Herausforderung besteht darin, eine französische Variante zu entwickeln: ein Modell, das die eigene soziale DNA wahrt und trotzdem mehr Dynamik entfaltet.

Denn eines zeigt Spanien eindeutig: Europa steckt voller Möglichkeiten, wenn man mutig kombiniert, pragmatisch handelt und über den Tellerrand schaut. Die Frage ist nur: Traut sich Frankreich, ähnliche Wege zu gehen?

Autor: Andreas M. Brucker

Neues E-Book bei Nachrichten.fr







Du möchtest immer die neuesten Nachrichten aus Frankreich?
Abonniere einfach den Newsletter unserer Chefredaktion!