Es war der 2. Juni 1975, als sich mehr als hundert Prostituierte in der Kirche Saint-Nizier im französischen Lyon versammelten. Keine skandierende Protestwelle, keine klirrenden Scheiben – nur Menschen, Worte und ein klares Zeichen: „So kann es nicht weitergehen.“ Diese Frauen hatten genug. Genug von Gewalt, Polizeischikane und gesellschaftlicher Ächtung. Mit ihrer Kirchenbesetzung schrieben sie Geschichte – und schufen den Grundstein für den Internationalen Hurentag, der seitdem jedes Jahr am 2. Juni begangen wird.
Damals wie heute ist dieser Tag mehr als ein bloßes Gedenken. Er ist ein Aufschrei.
Ein Aufschrei gegen Missstände, die sich trotz Fortschritt hartnäckig halten – gegen Ausgrenzung, Verdrängung und ein kollektives Schweigen, das nur dann gebrochen wird, wenn es um Skandale, Kriminalität oder sensationsgierige Boulevardberichte geht. Dabei sind Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter Teil unserer Gesellschaft. Punkt. Kein „Ja, aber“.
Und trotzdem: Die Debatte um Prostitution ist in vielen Ländern ein Minenfeld. Zwischen Verbot, Regulierung und Legalisierung verlieren sich die eigentlichen Menschen – ihre Geschichten, ihre Bedürfnisse, ihre Würde.
Frankreich, das Ursprungsland des Hurentags, verabschiedete 2016 ein Gesetz, das Freier bestraft. Ziel: weniger Prostitution. Das Ergebnis: mehr Versteckspiel, mehr Abhängigkeit, weniger Sicherheit. Die Stimmen der Sexarbeiterinnen? Oft überhört. In Deutschland wiederum wurde Prostitution 2002 legalisiert – ein mutiger Schritt, aber auch ein unvollendeter. Denn Rechte auf dem Papier helfen wenig, wenn sie im Alltag verpuffen. Arbeitsrechte, Absicherung, Schutz vor Gewalt – all das bleibt vielerorts Wunschdenken.
Was bedeutet es also, am 2. Juni die Stimme zu erheben?
Es bedeutet, den Blick auf das Menschliche zu richten. Auf Lebensrealitäten, die vielfältiger sind, als es moralische Raster erlauben. Manche entscheiden sich aus freien Stücken für die Sexarbeit – als Job, als Übergang, als Überlebensstrategie. Andere werden hineingedrängt, missbraucht, ausgebeutet. Beides existiert. Und beides muss differenziert betrachtet werden.
Wer alle Sexarbeit kriminalisiert, will retten – aber nimmt den Betroffenen oft genau das, was sie brauchen: Selbstbestimmung, Schutz, Sichtbarkeit. Wer hingegen wegsieht oder idealisiert, übersieht die Gefahren: Menschenhandel, Zwang, Gewalt.
Und wie oft geht es in der Debatte eigentlich nur um die Moral der anderen?
Zeit, das Steuer herumzureißen.
Der Internationale Hurentag fordert dazu auf, hinzusehen. Aber nicht mit dem erhobenen Zeigefinger – sondern mit Respekt. Es geht nicht darum, ein Berufsbild zu verklären. Es geht darum, Menschenrechte für alle einzufordern. Die Würde des Menschen ist unantastbar – das steht im Grundgesetz. Gilt das auch auf dem Straßenstrich?
In Lyon vor 49 Jahren hatten die Frauen keinen anderen Ort mehr, an dem sie sich Gehör verschaffen konnten – also suchten sie die Kirche auf. Ein Akt der Verzweiflung und gleichzeitig ein Symbol des Widerstands. Heute stehen nicht mehr nur Frauen auf – sondern auch trans und nicht-binäre Personen, Männer, Migrantinnen, Aktivistinnen. Die Bewegung ist breiter geworden. Lauter. Und doch bleibt sie oft am Rand.
Was fehlt?
Ein gesellschaftlicher Wandel. Ein Blickwechsel. Ein politischer Wille, der nicht über Köpfe hinweg entscheidet, sondern mit den Betroffenen spricht. In vielen Städten gibt es heute Beratungsstellen, Schutzräume, Organisationen wie Hydra, Doña Carmen oder Amnesty International, die sich für Sexarbeiterrechte stark machen. Doch die Finanzierung ist prekär, der Rückhalt bröckelig. Dabei wäre echte Unterstützung oft so einfach: Gesundheitsversorgung, sichere Arbeitsorte, soziale Anerkennung.
Und die Gesellschaft?
Die steht sich oft selbst im Weg. Zwischen Voyeurismus und Empörung bleibt wenig Platz für ehrliche Auseinandersetzung. Wer mit Sexarbeit nichts zu tun hat, ignoriert sie gerne. Wer mit ihr konfrontiert wird, verurteilt schnell.
Dabei gäbe es so viele Fragen, die wir uns stellen sollten:
Wie wollen wir mit Sexualität, Arbeit und Selbstbestimmung umgehen?
Warum dürfen Banker, Models oder Influencer von ihrem Körper profitieren – aber Sexarbeiterinnen nicht?
Und wer entscheidet eigentlich, was Würde bedeutet?
Sexarbeit ist Arbeit. Kein Verbrechen. Kein Skandal. Kein Stigma. Und genau deshalb braucht sie Schutz, nicht Strafverfolgung. Rechte, nicht Repression. Anerkennung, nicht Ausgrenzung.
Der Internationale Hurentag ist ein Weckruf. Ein Tag der Solidarität. Und ein Mahnmal dafür, wie viel noch zu tun ist.
Denn eines ist sicher: Solange Menschenrechte selektiv gewährt werden, bleibt die Gesellschaft ungerecht.
Von C. Hatty
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