Tausende rostige Zeitbomben liegen auf dem Grund des Atlantiks. Vergraben unter Sedimenten, umspült von Strömungen, vergessen von der Welt – bis jetzt.
Eine internationale Forschergruppe hat mithilfe modernster Technik über 3.000 Fässer mit radioaktiven Abfällen im Nordostatlantik kartiert. Was sie fanden, wirft Fragen auf. Und zwar solche, die lange Zeit niemand stellen wollte.
Blick in die Vergangenheit
Zwischen 1946 und 1993 – in einer Ära, in der Atomkraft als Allheilmittel galt und Müllentsorgung oft nach dem Prinzip „aus den Augen, aus dem Sinn“ funktionierte – versenkten mehrere europäische Länder Tausende Fässer mit radioaktiven Stoffen im Meer. Darunter: Frankreich, das Vereinigte Königreich, Deutschland und Belgien.
Ziel war es, die gefährlichen Abfälle möglichst weit weg von Mensch und Land zu bringen – rund 1.000 Kilometer südwestlich von Brest, fernab jeder Küste, mitten im Ozean. Heute wirkt diese Praxis nicht nur befremdlich, sondern beunruhigend.
Mission NODSSUM – Forscher auf Spurensuche
Im Frühjahr 2025 machte sich das französische Forschungsschiff L’Atalante auf den Weg, um mit einem autonomen Unterwasserfahrzeug namens Ulyx die versunkenen Altlasten aufzuspüren. Der Hightech-Tauchroboter der Meeresforschungsorganisation Ifremer scannte ein Areal von 163 Quadratkilometern – ein Gebiet etwa doppelt so groß wie Paris.
Ergebnis: 3.350 Fässer wurden lokalisiert. Der Zustand? Überraschend vielfältig. Einige Behälter wirken fast unversehrt – andere hingegen sind stark korrodiert, angefressen vom Salzwasser und überwuchert von Meeresorganismen. Bei manchen wurden sogar Lecks entdeckt. Bitumen, das zur Fixierung radioaktiver Stoffe diente, tritt sichtbar aus.
Gefahr für Umwelt und Mensch?
Die gute Nachricht: Die vor Ort gemessenen Strahlungswerte liegen im Bereich des natürlichen Hintergrundrauschens – keine akute Radioaktivität, keine dramatischen Messwerte.
Aber Entwarnung klingt anders. Denn was heute ruhig scheint, könnte morgen gefährlich werden. Niemand kann mit Sicherheit sagen, wie sich die Behälter in zehn, zwanzig oder fünfzig Jahren verhalten werden. Korrosion schreitet voran, Mikroorganismen verändern die Materialien, Meeresströmungen verlagern Sedimente. Und was genau in jedem einzelnen Fass steckt? Das weiß niemand so genau.
Der blinde Fleck unserer Industriegeschichte
Diese Mission ist mehr als nur eine Bestandsaufnahme. Sie ist ein Mahnmal. Ein stiller, aber deutlicher Hinweis auf die Langzeitfolgen industrieller Entscheidungen – und auf das, was passiert, wenn Transparenz und Weitsicht fehlen.
Denn trotz moderner Technik bleibt vieles im Dunkeln. Es gibt keine vollständige Liste aller versenkten Abfälle. Keine genauen Daten, keine Karten, keine Protokolle über Inhalt, Zustand oder mögliche Langzeitrisiken. Man ahnt – aber man weiß nicht.
Was jetzt passieren muss
Eine zweite Mission ist bereits geplant. In ein bis zwei Jahren sollen weitere Untersuchungen folgen. Ziel: die Fässer noch genauer analysieren, mögliche Gefahren besser einschätzen, Schutzmaßnahmen vorbereiten. Denn der Ozean ist kein Archiv, in dem sich die Vergangenheit spurlos ablegen lässt.
Die Forschung hat begonnen, aber die Verantwortung bleibt. Es braucht klare Regeln, konsequente Überwachung – und vor allem Ehrlichkeit im Umgang mit dem, was man Jahrzehnte lang zu ignorieren versuchte.
Und die wichtigste Frage bleibt offen
Wie gehen wir mit einem Erbe um, das niemand haben will – das aber niemand mehr loswird?
Denn was auf dem Meeresgrund liegt, bleibt dort nicht einfach liegen. Es verändert sich. Und es erinnert uns – daran, wie eng Fortschritt und Verantwortung miteinander verwoben sind.
Autor: Andreas M. Brucker
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