Stellen Sie sich vor, Sie können das Wasser aus Ihrem eigenen Wasserhahn nicht trinken – nicht, weil es unappetitlich aussieht oder schlecht schmeckt, sondern weil es potenziell lebensgefährlich ist. Genau das ist die Realität für viele Bewohner kleiner Gemeinden im Gers, einer Region im Südwesten Frankreichs. Schuld daran ist eine kaum bekannte, aber äußerst besorgniserregende Verschmutzung durch Chlorid-Vinyl-Monomer (CVM), einen hochgiftigen Stoff, der durch alte Plastikleitungen freigesetzt wird.
Das unsichtbare Gift in den Leitungen
Die Bewohner von Dörfern wie Sérempuy haben ihre Routine längst angepasst. Statt den Wasserhahn aufzudrehen, greifen sie täglich zu Wasserflaschen. Doch warum eigentlich? Die Antwort liegt in den PVC-Leitungen, die vor 1980 verbaut wurden. Diese Rohre, die damals als technologische Innovation galten, entpuppen sich heute als tickende Zeitbombe. Durch chemische Prozesse setzen sie CVM frei – ein krebserregendes Gas, das vor allem in den sogenannten „Netzende“ der Wasserversorgung in kleinen, abgelegenen Gemeinden in höherer Konzentration vorkommt.
CVM hat einen besonders schlechten Ruf in der Wissenschaft: Es ist eine bekannte Ursache für aggressive Leberkrebserkrankungen, die oft tödlich verlaufen. Das Problem bleibt jedoch unsichtbar. Das Wasser sieht klar aus, es riecht nicht, und ohne spezielle Tests lässt sich die Kontamination nicht feststellen. Wie fühlt es sich wohl an, täglich Wasser aus einer Leitung zu nutzen, die potenziell giftig ist – selbst, wenn es nur für die Dusche oder die Wäsche ist?
Ein Brief, der Leben veränderte
Für eine Bewohnerin von Sérempuy kam der Schock 2023 per Post. Ihr Wasserversorger informierte sie schriftlich darüber, dass das Leitungswasser in ihrer Region mit CVM belastet ist. Es war nicht nur eine Warnung, sondern eine Anweisung: Das Trinkwasser darf nicht mehr konsumiert werden. Kein Kochen, kein Trinken – nichts. Man stelle sich vor, was für eine Nachricht das für jemanden bedeutet, der seit Jahrzehnten auf das Wasser aus dem Hahn vertraut hat.
Wie kam es zu diesem Desaster? Die Antwort ist simpel: veraltete Infrastruktur und ein chronischer Mangel an finanziellen Mitteln. In vielen kleinen Gemeinden, die oft am Ende des Wassernetzes liegen, sind die PVC-Leitungen über 40 Jahre alt und längst nicht mehr sicher. Aber sie zu ersetzen, ist leichter gesagt als getan.
Finanzielle Sackgasse: Warum passiert nichts?
„Wir haben schlicht kein Budget dafür“, sagt Michel Fourreau, Bürgermeister von Saint-Antonin im Gers, mit einer resignierten Ehrlichkeit, die gleichzeitig Frustration und Hilflosigkeit spüren lässt. Die Verantwortung für die Wasserleitungen liegt bei den kommunalen Wasserversorgern – und damit oft direkt bei den Bürgermeistern. Doch was können kleine Dörfer mit ohnehin knappen Haushaltskassen tun, wenn der Austausch der Leitungen mehrere hunderttausend Euro kostet?
Die Lage ist verzwickt: Ohne finanzielle Unterstützung von staatlicher Seite oder regionalen Behörden gibt es kaum Hoffnung auf eine Lösung. Die betroffenen Gemeinden kämpfen bereits mit sinkenden Bevölkerungszahlen, alternder Infrastruktur und einer unzureichenden Unterstützung auf höherer politischer Ebene. CVM ist nicht das einzige Problem, aber ein besonders gefährliches. Und hier stellt sich die Frage: Wie viele Menschenleben müssen noch gefährdet werden, bevor ernsthaft gehandelt wird?
Ein flächendeckendes Problem
Das Gers ist kein Einzelfall. Ähnliche Situationen gibt es auch in anderen ländlichen Regionen Frankreichs – und nicht nur dort. Das Problem mit PVC-Leitungen ist ein globales. In vielen Ländern wurden diese Materialien in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als kostengünstige Alternative zu Metallrohren eingesetzt. Die Langlebigkeit, die man ihnen damals zuschrieb, war ein Trugschluss: Stattdessen altert das Material, wird spröde und gibt gefährliche Stoffe an das Trinkwasser ab.
Die Situation zeigt, wie dringend der Ausbau und die Erneuerung von Infrastruktur in ländlichen Gebieten ist – und wie sehr der Klimawandel und die Umweltkrise bestehende Probleme verschärfen. Durch extremere Wetterbedingungen wie längere Trockenperioden oder plötzliche Starkregenereignisse wird die Belastung für Wasserversorgungssysteme immer größer. Ein marodes Rohrsystem ist da eine tickende Zeitbombe.
Wer trägt die Verantwortung?
Die Diskussion um Verantwortlichkeiten bleibt kompliziert. Einerseits haben die Gemeinden die rechtliche Pflicht, eine sichere Wasserversorgung zu gewährleisten. Andererseits fehlt ihnen oft das Geld, um notwendige Maßnahmen zu ergreifen. Sollten also nicht Bund oder EU eingreifen und finanzielle Mittel bereitstellen? Schließlich betrifft das Problem nicht nur die Gesundheit der Menschen, sondern auch grundlegende soziale Gerechtigkeit: Niemand sollte in einem Land wie Frankreich gezwungen sein, gefährliches Wasser zu nutzen, nur weil er in einer ländlichen Gegend lebt.
Mögliche Lösungen
Es gibt Licht am Ende des Tunnels – zumindest theoretisch. In Frankreich werden aktuell verschiedene Förderprogramme für die Sanierung kommunaler Infrastruktur geprüft. Diese könnten auch die Erneuerung von Trinkwasserleitungen einschließen. Doch es bleibt die Frage, wie schnell solche Mittel bewilligt werden und ob sie tatsächlich bis zu den kleinen Gemeinden durchdringen.
Ein weiterer Ansatz ist die Entwicklung neuer Technologien, die es ermöglichen, belastete Leitungen gezielt zu reinigen oder von innen zu versiegeln. Solche Verfahren sind zwar noch in der Entwicklung, könnten aber eine kostengünstigere Alternative zu einem kompletten Austausch der Rohre sein.
Und die Menschen?
Während auf politischer Ebene diskutiert und geplant wird, bleibt der Alltag der Betroffenen unverändert. Sie schleppen weiterhin Wasserflaschen nach Hause, leben mit der Unsicherheit, ob das Problem jemals gelöst wird, und fragen sich, ob ihre Gesundheit bereits in der Vergangenheit geschädigt wurde.
Am Ende zeigt diese Geschichte, wie sehr sich die Ungleichheiten zwischen Stadt und Land auch in grundlegenden Bereichen wie der Wasserversorgung manifestieren. Es ist ein Weckruf – für Frankreich und für andere Länder –, dass die Bedürfnisse der ländlichen Bevölkerung nicht länger ignoriert werden dürfen.
Denn mal ehrlich: Wie würden Sie reagieren, wenn Sie plötzlich Ihrem Wasserhahn nicht mehr vertrauen könnten? Es ist eine Frage, die niemand ignorieren sollte.
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