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Seit Wochen zeichnet sich eine fundamentale Neuausrichtung der US-Außenpolitik ab. Präsident Donald Trump verfolgt einen radikalen Bruch mit der traditionellen diplomatischen Strategie Washingtons: Statt auf stabile Bündnisse mit gleichgesinnten Demokratien zu setzen, orientiert er sich an einer Politik der machtpolitischen Verhandlungen unter Großmächten. Spätestens mit der öffentlichen Demütigung des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj im Oval Office wurde klar, dass dieser Kurs keine Rücksicht auf bisherige Verpflichtungen nimmt. Die entscheidende Frage lautet nun: Wie weit wird Trump gehen, um seine Vision durchzusetzen?

Ein Eklat im Oval Office

Die Begegnung zwischen Trump, Selenskyj und Vizepräsident JD Vance am vergangenen Freitag war mehr als nur ein diplomatisches Zerwürfnis – sie war eine tektonische Verschiebung der transatlantischen Beziehungen. Vor laufenden Kameras wies Trump Selenskyj scharf zurecht und ließ keinen Zweifel daran, dass Kiew keine starken Verhandlungspositionen gegenüber Moskau habe. Vance, einst ein Unterstützer der Ukraine, warf dem ukrainischen Präsidenten mangelnde Dankbarkeit vor. Damit zerbrach die seit drei Jahren bestehende enge Partnerschaft zwischen den USA und der Ukraine – mit unabsehbaren Konsequenzen.

Ob eine Reparatur dieser Beziehungen möglich ist und ob das geplante Abkommen über amerikanische Beteiligungen an ukrainischen Rohstoffvorkommen noch realisiert werden kann, bleibt ungewiss. Fest steht jedoch: Der Zwischenfall offenbarte, dass Trump die Ukraine als Hindernis für ein weitaus größeres geopolitisches Ziel betrachtet.

Normalisierung mit Russland als oberste Priorität

Hinter verschlossenen Türen hatten hochrangige europäische Diplomaten bereits seit Wochen gewarnt: Trump sucht nicht nur ein Ende des Ukraine-Kriegs, sondern eine grundlegende Neuordnung der Beziehungen zu Russland. Das impliziert nicht nur eine mögliche Anerkennung der völkerrechtswidrigen Annexionen durch Moskau, sondern auch das Fallenlassen sämtlicher Ermittlungen zu russischen Kriegsverbrechen. Trump, so die Einschätzung westlicher Regierungsvertreter, ist zu weitreichenden Zugeständnissen bereit, wenn sie ihm eine strategische Annäherung an den Kreml ermöglichen.

Diese Tendenz wurde bereits durch Äußerungen von Außenminister Marco Rubio untermauert. Rubio, einst ein vehementer Kritiker Russlands, erklärte kürzlich, dass die USA eine stabile Beziehung sowohl zu Moskau als auch zu Peking anstreben müssten. Von der einstigen Warnung, Russland dürfe nicht ungestraft bleiben, um weitere Aggressionen zu verhindern, war nichts mehr zu hören. Vielmehr scheint die neue Doktrin der US-Regierung auf ein rein pragmatisches Verständnis von Machtpolitik hinauszulaufen: Stabile Beziehungen zwischen den drei größten Mächten der Welt sollen die neue geopolitische Ordnung bestimmen.

Das Ende der alten Weltordnung?

Trumps Vorgehen verdeutlicht seine tiefe Skepsis gegenüber dem internationalen System, das nach dem Zweiten Weltkrieg von den USA mit aufgebaut wurde. Während seine Vorgänger – Republikaner wie Demokraten – multilaterale Bündnisse als Kraftverstärker der amerikanischen Außenpolitik betrachteten, sieht Trump in ihnen eine Belastung. In seinem Verständnis haben kleinere Staaten wie die Ukraine oder die NATO-Partner Europas über Jahrzehnte von der amerikanischen Schutzmacht profitiert, ohne selbst die Hauptlast der Verteidigung zu tragen.

Diese Sichtweise erklärt auch seine Forderung, Dänemark solle Grönland an die USA abtreten, Panama den von Amerikanern gebauten Kanal zurückgeben und das Gaza-Gebiet für ein neues Wirtschaftsprojekt unter US-Aufsicht nutzen. Was in früheren Zeiten als Tabubruch gegolten hätte, gehört in Trumps neuer Weltordnung offenbar zum politischen Kalkül.

Das Dilemma Europas

Die europäische Reaktion auf den Eklat im Oval Office fiel gespalten aus. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron forderte eine verstärkte Unterstützung der Ukraine und erinnerte daran, dass Kiew an vorderster Front für die Freiheit Europas kämpfe. Insbesondere die osteuropäischen Staaten wie Polen und die baltischen Republiken teilen diese Auffassung – jedoch hinter verschlossenen Türen wächst die Sorge, dass die USA ihre Schutzgarantien für Europa schrittweise aufweichen könnten.

Gleichzeitig zeigen sich Anzeichen, dass Teile des westlichen Establishments versuchen, sich mit der neuen Realität zu arrangieren. In Deutschland etwa wächst der Einfluss rechtspopulistischer Strömungen, die sich mit Trumps Ansatz einer machtpolitischen Neuordnung anfreunden könnten. Auch die konservativen Kräfte in Großbritannien haben begonnen, ihre Verteidigungsstrategien ohne die bisherige transatlantische Selbstverständlichkeit zu überdenken.

Ein riskanter Kurs

Während Trump sich selbst als kompromisslosen Verhandler sieht, der im Alleingang eine neue Weltordnung erschafft, bleibt unklar, welche langfristigen Konsequenzen seine Politik haben wird. Die bestehende Weltordnung, so fehlerhaft sie auch sein mag, hat über Jahrzehnte einen offenen Großmachtkonflikt verhindert und wirtschaftliche Zusammenarbeit gefördert. Ob Trumps Vision einer reinen Machtpolitik ohne verbindliche Regeln eine stabilere Alternative bietet, ist höchst fraglich.

Die Ereignisse im Oval Office zeigen, dass Trump entschlossen ist, das Erbe der Nachkriegsordnung hinter sich zu lassen. Doch während es leicht ist, eine bestehende Ordnung zu zerschlagen, ist es ungleich schwieriger, eine tragfähige neue zu errichten. Ob seine Strategie langfristig erfolgreich sein wird, oder ob sie letztlich nur Chaos hinterlässt, wird sich erst in den kommenden Jahren zeigen.

Von M.A.B.

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