Tag & Nacht

Drei Monate nach Beginn der russischen Invasion in der Ukraine häufen sich die Vergewaltigungsvorwürfe gegen die russischen Besatzungstruppen, insbesondere in den inzwischen wieder befreiten Städten in der Region Kiew, wie z. B. Butscha.

in junges Mädchen flüchtet sich in ein Auto und flüstert: „Hilf mir“. Seit zwei Monaten hat sich diese Szene im Gedächtnis von Konstantin Gudauskas festgesetzt. Dem kasachischen Menschenrechtsaktivisten, der seit 2019 im Exil lebt und in der Ukrain in Butscha wohnt, gelang es dank seines ausländischen Passes, 203 Menschen aus dieser Stadt und ihrer Umgebung zu evakuieren, meldet Franceinfo. Darunter befanden sich mindestens 17 Opfer von Vergewaltigungen unter der russischen Besatzung, darunter auch diese etwa 15-jährige Jugendliche. „Sie war zehn Tage lang in einem Keller gefangen. Es gab keinen einzigen Tag, an dem sie nicht vergewaltigt wurde“, erzählt Konstantin Gudauskas gegenüber Franceinfo.

Die Berichte von Zeugen wie Konstantin Gudauskas, von Psychologen und Ermittlern belegen das Ausmaß der Gräueltaten, die von russischen Soldaten in der Ukraine verübt wurden. Zusätzlich zu den grausamen Hinrichtungen von Zivilisten werden Vergewaltigungen als „Strategie“ von den Besatzungstruppen eingesetzt, wie die Generalstaatsanwältin der Ukraine, Iryna Venediktova, anklagt. „Nur eine Lüge“, sagt hingegen der Kreml. Seit dem 1. April „haben wir 800 Anrufe erhalten, die meisten von ihnen haben eine Vergewaltigung erlitten“, berichtete die Menschenrechtsbeauftragte des ukrainischen Parlaments, Ljudmila Denisowa, gegenüber der französischen Zeitung Le Monde. In den sozialen Netzwerken berichtet die Menschenrechtsverteidigerin von mehreren konkreten Fällen von Vergewaltigungen, die vor allem in Butscha begangen wurden.

„Es gibt viele Grausamkeiten“
Das von Konstantin Gudauskas erwähnte 15-jährige Mädchen war das erste Vergewaltigungsopfer, das er während seiner Mission zur Evakuierung von Zivilisten traf. „Sie hat mir während der Fahrt alles erzählt“, beschreibt er gegenüber Franceinfo. Die Jugendliche und ihre Mutter wurden am 1. März in Butscha von Soldaten festgenommen und in einen Keller des nahe gelegenen Dorfes Vorzel gebracht. Die Vergewaltigungen „begannen am ersten Tag“. Die Mutter des Mädchens wurde gezwungen, Zeugin der Gruppenvergewaltigungen zu werden. Die Soldaten „vergewaltigten das Mädchen auf einem Tisch, einer nach dem anderen“, erzählt Konstantin Gudauskas sehr bewegt. „Am ersten Abend waren es acht, an den folgenden Abenden zwischen sieben und zwölf.“ Die Mutter des Mädchens wurde schliesslich von einem Schuss ins Bein getroffen und erlag in diesem Keller ihren Verletzungen.

„Die Soldaten waren ständig betrunken. Wenn das Mädchen bewusstlos wurde, schütteten sie Wasser über sie. Die medizinischen Untersuchungen ergaben, dass sie niemals mehr ein Kind bekommen kann.“ (Konstantin Gudauskas gegenüber Franceinfo)

Auf der Straße zwischen Butscha und Kiew berichteten mehrere Opfer ihrem Retter Konstantin Gudauskas von den Drohungen der russischen Angreifer: „Wir werden dich vergewaltigen, um sicherzugehen, dass du nie ein Kind von einem ukrainischen Mann bekommst.“ Der Menschenrechtsaktivist sagt: „Mein Leben wird nach diesem Krieg nicht mehr dasselbe sein“.

Vergewaltigungen vor Zeugen, um „Panik“ zu erzeugen
Das Zentrum für bürgerliche Freiheiten, eine NGO, die derzeit Kriegsverbrechen in der Ukraine dokumentiert, sammelte ebenfalls Hinweise auf Vergewaltigungen in der Region Kiew. Diese Verbrechen „gehen sehr oft mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen der Überlebenden dieser Vergewaltigungen einher. Es gibt viele Grausamkeiten“, wird Oleksandra Matviychuk, die Leiterin der NGO, von Franceinfo zitiert.

„Die sexuelle Gewalt ist Teil des Terrors, den die russischen Soldaten in den besetzten Gebieten anwenden, um schnell die Kontrolle über diese Gebiete zu erlangen und sie zu behalten.“ (Oleksandra Matviychuk, Direktorin des Zentrums für bürgerliche Freiheiten in der Ukraine gegenüber Franceinfo)

In dem Bestreben, unter der besetzten Bevölkerung „Terror“ zu verbreiten, „werden die Vergewaltigungen sehr oft vor anderen Menschen, Nachbarn, Verwandten begangen“, fügt sie hinzu. Die Anwältin Julia Anosowa, deren Organisation La Strada Ukraine den Opfern psychologische und rechtliche Unterstützung bietet, beschreibt, dass die Verbrechen „in den Häusern der Opfer und auch außerhalb der Häuser“ verübt werden, um „Panik in den Gemeinden“ zu erzeugen. Fast alle von La Strada gesammelten Zeugenaussagen berichten auch von Massenvergewaltigungen, die von Gruppen von Soldaten unter Alkohol- oder Drogeneinfluss begangen wurden.

Aliona Kryvuliak ist Psychologin und begleitet zwei Frauen, die über sexuelle Gewalt während der Besetzung von Butscha berichtet haben. Eine von ihnen wurde eines Abends in ihrem Haus von drei Soldaten mehrfach vergewaltigt, „vor den Augen ihres dreijährigen Kindes“, berichtet die Psychologin gegenüber Franceinfo. Wiederholt sagten Soldaten dem Opfer, dass sie sie vergewaltigen würden, „bis sie sich vor ukrainischen Männern ekelt“.

„Als sie das Erlebte einer Freundin erzählte, sagte sie, dass sie sich selbst und ihren eigenen Körper hasse. Sie dachte an Selbstmord.“ (Aliona Kryvuliak von der Organisation La Strada Ukraine gegenüber Franceinfo)

Auch in Butscha hatte sich die zweite von Aliona Kryvuliak betreute Frau mit acht weiteren Frauen und vier Kindern in einen Keller geflüchtet, als fünf Soldaten eintrafen. Die Soldaten forderten die Ukrainerinnen auf, aus der Gruppe zwei Frauen auszuwählen, die sie vergewaltigen würden. In Todesangst flehten die Frauen die Soldaten an, sich nicht an ihnen zu vergehen. „Die Soldaten kamen später am Abend zurück, sie wählten selbst zwei Frauen aus, die sie vor allen vergewaltigten“, schildert die Psychologin. „Sechs weitere Frauen wurden gezwungen, sich auszuziehen“, darunter auch ihre Patientin. Seitdem lebt diese „in einem ständigen Zustand der Angst“.

Nach Aussagen der Überlebenden von Butscha haben auch andere Opfer wiederholt sexuelle Gewalt erlitten, eine Hölle, die sich über einen längeren Zeitraum hinzog. Fünfundzwanzig Teenager und junge Frauen im Alter von 14 bis 24 Jahren sollen während der Besetzung im Keller eines Hauses in Butscha systematisch vergewaltigt worden sein. Der Horror dauerte laut New York Times 25 Tage, und neun der Vergewaltigungsopfer wurden schwanger.

„Sie sagten zu mir: ‚Deine Tochter ist sehr schön‘. Ich habe sie angefleht, sie nicht anzufassen. Ich sagte ihnen: ‚Macht mit mir, was ihr wollt, aber fasst sie nicht an‘.“ (eine in Butscha lebende Ukrainerin gegenüber dem Sender RTS)

Damit „die ganze Welt weiß, wer sie sind und wozu sie fähig sind“ beschreiben die Frauen und Mädchen die Gräueltaten, die sie von den russichen Besatzern erleiden mussten…

Auch Kinder unter den Vergewaltigungsopfern
La Strada Ukraine und das Zentrum für Bürgerliche Freiheiten wurden über zwei Fälle informiert, in denen Männer Opfer von Vergewaltigungen wurden. Auch Kinder, Jungen und Mädchen, erlitten laut der Menschenrechtsbeauftragten des ukrainischen Parlaments die gleichen Gräueltaten. Ein elfjähriger Junge wurde vor den Augen seiner Mutter vergewaltigt – sie war an einen Stuhl gefesselt und gezwungen zuzusehen. Kurz nach der Befreiung der Stadt berichtete die Psychologin und Psychiaterin Lilya Shakalova auf der Website Babel, dass eine ihrer jungen Patientinnen – neun Jahre alt – in ihrem Haus in Butscha Opfer einer Vergewaltigung geworden war. Laut der Psychologin „vergewaltigten Soldaten das kleine Mädchen, sie begann zu schreien, dann schlugen sie eine Frau, die versuchte, sie zu retten“.

Hinweise deuten darauf hin, dass von russischen Streitkräften getötete Frauen vor ihrem Tod vergewaltigt wurden, wie ukrainische Gerichtsmediziner in der Zeitung The Guardian zitiert werden. Die New York Times berichtet über den Fall einer Frau aus Butscha, die vor ihrer Hinrichtung als „Sexsklavin“ festgehalten wurde. Die Polizei fand geöffnete Kondomverpackungen und ein gebrauchtes Kondom in der Nähe ihres nur mit einem Mantel bekleideten Körpers.

Da immer mehr Überlebende ihr Schweigen brechen, ist die Psychologin Aliona Kryvuliak der Ansicht, dass diese Sexualverbrechen „keine Einzelfälle“ sind. „Das ist in allen besetzten Städten im Kiewer Gebiet passiert“, sagt sie. Butscha, Irpin, aber auch die Regionen Charkiw und Mariupol seien betroffen. Für Aliona Kryvuliak ist Vergewaltigung zweifellos eine der Kriegswaffen der russischen Armee.


Du möchtest immer die neuesten Nachrichten aus Frankreich?
Abonniere einfach den Newsletter unserer Chefredaktion!