Tag & Nacht




Am 23. Juli 2025 trafen sich ukrainische und russische Delegationen in Istanbul zur dritten offiziellen Gesprächsrunde seit Beginn des Jahres. Während erneut keine Fortschritte auf dem Weg zu einem Waffenstillstand erzielt wurden, einigten sich beide Seiten auf einen groß angelegten Gefangenenaustausch. 1.200 Kriegsgefangene sollen jeweils freikommen, zudem erklärte sich Russland bereit, die Leichname von 3.000 gefallenen ukrainischen Soldaten zu übergeben – eine Geste, die zumindest auf humanitärer Ebene Bewegung signalisiert.

Ein kurzes Gespräch mit bekannten Fronten

Dass die Verhandlungen kaum eine Stunde dauerten, spricht Bände über den Stand der Gespräche. Unter Leitung von Verteidigungsminister Rustem Umerov beharrte die ukrainische Delegation auf einem vollständigen und bedingungslosen Waffenstillstand – als Voraussetzung für weiterführende Verhandlungen. Zudem schlug Kiew ein persönliches Treffen zwischen Präsident Wolodymyr Selenskyj und Wladimir Putin bis Ende August vor.

Russlands Chefunterhändler Wladimir Medinski reagierte kühl. Ein solches Treffen könne allenfalls zur Unterzeichnung eines fertigen Abkommens stattfinden – nicht jedoch zur Diskussion offener Fragen. Damit hält Moskau an einer Strategie fest, die auf bilaterale Deeskalation ohne substanzielle Zugeständnisse zielt. Russland schlug erneut 24- bis 48-stündige Waffenruhen für humanitäre Zwecke vor, etwa zur Bergung Gefallener. Die Ukraine lehnte dies als „unzureichend“ ab.

Der Konflikt um verschleppte Kinder

Ein besonders heikles Thema bleibt das Schicksal der mutmaßlich verschleppten ukrainischen Kinder. Seit Kriegsbeginn soll Russland laut ukrainischen Angaben mehrere Tausend Minderjährige aus besetzten Gebieten nach Russland gebracht haben – offiziell unter dem Vorwand, die Kinder zu schützen, faktisch aber ohne Einwilligung der Eltern oder internationalen Kontrollmechanismen.

Während Moskau beteuert, die Kinder seien in staatlicher Obhut und in Sicherheit, wirft Kiew Russland systematische Deportation und kulturelle Assimilation vor. Präsident Selenskyj hat mit der Initiative „Bring the Kids Back“ versucht, internationale Aufmerksamkeit auf das Thema zu lenken – mit Unterstützung westlicher Staaten, aber bislang ohne konkrete Ergebnisse. Ein Rückführungskorridor oder eine unabhängige Prüfung ist nicht in Sicht.

Die UNO und der Internationale Strafgerichtshof hatten bereits 2023 Ermittlungen zur Rechtswidrigkeit der Kinderverschleppungen angestoßen. Russland erkennt deren Jurisdiktion jedoch nicht an. Das Thema bleibt somit ein symbolischer wie praktischer Stolperstein auf dem Weg zu einem politischen Ausgleich.

Die Rolle Ankaras – Vermittlung mit begrenztem Spielraum

Dass die Gespräche in Istanbul stattfinden, ist kein Zufall: Die Türkei bemüht sich seit Beginn des Krieges um eine moderierende Rolle. Präsident Erdoğan pflegt enge Beziehungen zu beiden Seiten, liefert Drohnen an die Ukraine und unterhält zugleich wirtschaftliche und energiepolitische Beziehungen mit Russland.

Bereits 2022 hatte Ankara mit dem sogenannten Getreideabkommen zwischen Kiew und Moskau einen diplomatischen Teilerfolg erzielt, der allerdings nach gut einem Jahr scheiterte. Auch diesmal bleibt der Spielraum begrenzt. Die Türkei kann Gesprächsformate anbieten – doch ein echter Verhandlungsdurchbruch wird nur mit aktivem Zutun anderer Großmächte gelingen.

Kein Frieden ohne politische Neuausrichtung

So wichtig einzelne humanitäre Maßnahmen auch sind: Sie dürfen nicht über den strukturellen Stillstand hinwegtäuschen. Der russische Krieg gegen die Ukraine geht in sein viertes Jahr, und die Frontlinien haben sich seit Monaten kaum bewegt. Russland hält nach wie vor weite Teile der Regionen Donezk, Luhansk, Saporischschja und Cherson besetzt, während die Ukraine weiterhin überwiegend auf internationale Militärhilfen angewiesen ist.

Beide Seiten verfolgen bislang unvereinbare Ziele. Kiew fordert die vollständige Wiederherstellung der territorialen Integrität, einschließlich der Krim, sowie internationale Sicherheitsgarantien. Moskau hingegen strebt eine Anerkennung der de facto bestehenden Besatzungsverhältnisse an und pocht auf eine neutrale Ukraine.

Solange keine Bewegung auf diesen fundamentalen Positionen stattfindet – etwa durch außenpolitischen Druck, militärische Dynamik oder innenpolitischen Wandel –, bleiben Gespräche wie die in Istanbul vor allem symbolische Rituale. Derweil wächst die Belastung für die Zivilbevölkerung: in Form von Verlusten, Vertreibung und einer Wirtschaft, die sich kaum erholen kann.

Trotz der geringen Fortschritte ist der Dialog selbst von Wert. Der vereinbarte Gefangenenaustausch zeigt, dass begrenzte Verständigung möglich ist – selbst in einem sonst festgefahrenen Konflikt. Die internationale Diplomatie steht vor der Aufgabe, solche Teilerfolge in dauerhafte Strukturen zu überführen. Dazu braucht es Geduld, Druck und ein neues Verständnis gemeinsamer Sicherheitsinteressen in Europa.


Machtprobe im Schatten des Krieges: Warum Selenskyjs Eingriff in die Antikorruptionsbehörden die Ukraine spaltet

Inmitten des russischen Angriffskriegs erlebt die Ukraine eine innenpolitische Erschütterung, die kaum jemand erwartet hatte: landesweite Proteste gegen Präsident Wolodymyr Selenskyj – ausgerechnet wegen eines Gesetzes, das zentrale Antikorruptionsinstitutionen schwächt. Die politische Kontroverse offenbart einen tiefen Zielkonflikt zwischen Sicherheitsinteressen, demokratischer Rechtsstaatlichkeit und geopolitischer Orientierung.

Zentralisierung statt Unabhängigkeit

Am 22. Juli unterzeichnete Selenskyj ein Gesetz, das dem Generalstaatsanwalt weitreichende Aufsichtsrechte über das Nationale Antikorruptionsbüro (NABU) und die Spezialisierte Antikorruptionsstaatsanwaltschaft (SAPO) einräumt. Beide Institutionen waren bislang bewusst unabhängig organisiert worden – als Lehren aus der postsowjetischen Geschichte der politischen Einflussnahme auf Ermittlungsbehörden. Mit dem neuen Gesetz jedoch rückt die Strafverfolgung unter den direkten Einfluss der Exekutive, konkret des Präsidenten.

Selenskyj begründete die Maßnahme mit dem dringenden Erfordernis, russischen Einfluss in den Sicherheitsorganen auszuschalten. Zwei NABU-Mitarbeiter sollen jüngst wegen mutmaßlicher Zusammenarbeit mit russischen Geheimdiensten festgenommen worden sein – ein brisanter Vorgang, der die These vom „Feind im Innern“ nährt. Doch für viele Beobachter überwiegt der politische Kontext: NABU und SAPO hatten in der Vergangenheit wiederholt Verfahren gegen enge Vertraute des Präsidenten eingeleitet – etwa gegen den früheren Infrastrukturminister Oleksij Tschernyschow. Der Eingriff in die Unabhängigkeit der Ermittlungsbehörden erscheint daher nicht allein als sicherheitspolitischer Reflex, sondern als politisches Kalkül.

Proteste im Ausnahmezustand

Die gesellschaftliche Reaktion fiel bemerkenswert deutlich aus: In Kiew, Lwiw, Dnipro und weiteren Städten demonstrierten Tausende gegen das Gesetz – trotz des unter Kriegsrecht geltenden Verbots öffentlicher Versammlungen. Die Teilnehmerzahl überstieg laut Beobachtern sogar die Proteste gegen soziale Kürzungen oder Mobilmachungen im Frühjahr. Auffällig ist zudem die Zusammensetzung der Demonstranten: Neben jungen Aktivisten und Studierenden beteiligten sich zahlreiche Kriegsveteranen – eine Gruppe mit hohem moralischen Gewicht in der ukrainischen Gesellschaft. Auf Transparenten war zu lesen: „Für ein freies Land braucht es freie Institutionen.“

Ein Soldat der Frontlinie, befragt vom Kyiv Independent, sprach von einem „Messer in den Rücken“. Seine Kritik richtet sich weniger gegen Selenskyj persönlich als gegen das Signal, das von diesem Schritt ausgehe: Dass inmitten eines Überlebenskampfes für die nationale Freiheit die Prinzipien der Gewaltenteilung geopfert würden.

Internationale Irritation und diplomatische Dissonanz

Auch international blieb die Gesetzesänderung nicht folgenlos. Die Europäische Kommission äußerte sich „zutiefst besorgt“, ebenso Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und der niederländische Außenminister Caspar Veldkamp. In einer gemeinsamen Erklärung kündigten die G7-Staaten an, die Entwicklungen „sehr genau zu beobachten“. Diplomatisch brisant ist die Maßnahme insbesondere mit Blick auf den EU-Beitrittsprozess der Ukraine: Die Sicherung rechtsstaatlicher Standards, allen voran die Unabhängigkeit der Justiz, gelten als zentrale Bedingungen für einen erfolgreichen Abschluss der Beitrittsverhandlungen. Schon jetzt blockiert Ungarn – aus politischen Motiven – weitere Fortschritte im Verfahren. Das neue Gesetz droht nun, auch moderate Partner zu verprellen.

Die internationale Kritik verweist auf ein grundlegendes Dilemma: Kann ein Land unter Kriegsrecht demokratische Reformen glaubwürdig fortführen? Und wie belastbar sind die Institutionen einer jungen Demokratie, wenn sie gleichzeitig Angriffen von außen und politischen Verwerfungen im Innern ausgesetzt sind?

Zeichen des Rückzugs?

Angesichts des wachsenden Protests signalisierte Selenskyj ein erstes Einlenken. In einer Ansprache kündigte er an, innerhalb von zwei Wochen eine neue Gesetzesvorlage vorzulegen, die die Unabhängigkeit von NABU und SAPO garantiere. Zugleich stellte er klar, dass die Bekämpfung russischer Einflussnahme weiterhin oberste Priorität habe – allerdings im Einklang mit demokratischen Prinzipien. Der Schritt zeigt, wie sensibel die Regierung auf innenpolitischen Druck reagiert – ein positives Signal in autoritätsgeprägten Kriegszeiten. Vertreter von NABU und SAPO begrüßten die Ankündigung, betonten jedoch, dass „Vertrauen nicht durch Worte, sondern durch Institutionen“ geschaffen werde.

Die Episode wirft ein Schlaglicht auf eine breitere Entwicklung: Der innenpolitische Rückhalt für Selenskyj ist nicht mehr unerschütterlich. Nach über drei Jahren Krieg, massiven Verlusten an Menschenleben und fortwährender Unsicherheit wächst die Erwartungshaltung der Bevölkerung – nicht nur an militärische Effizienz, sondern auch an politische Integrität.

Die Ukraine steht damit an einem neuralgischen Punkt ihrer politischen Entwicklung. Der Versuch, unter dem Deckmantel der nationalen Sicherheit rechtsstaatliche Kontrollinstanzen zu schwächen, könnte langfristig mehr Schaden anrichten als russische Propaganda. Umgekehrt zeigt die massive Mobilisierung der Zivilgesellschaft, dass demokratisches Bewusstsein und Widerstandsfähigkeit im Land stark geblieben sind.

Es ist ein Balanceakt zwischen staatlicher Handlungsfähigkeit im Krieg und der Wahrung rechtsstaatlicher Prinzipien. Wie belastbar dieser Spagat ist, wird sich in den kommenden Wochen zeigen – wenn das angekündigte neue Gesetz auf dem Tisch liegt und die internationalen Partner ihre Position überdenken müssen. Der Ausgang dieser Debatte dürfte weit über die konkrete Gesetzesfrage hinaus Bedeutung haben: als Testfall für die demokratische Resilienz eines Landes im Krieg.


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Handel: Die Aktienmärkte in Asien und Europa verzeichneten Kursgewinne, nachdem Präsident Trump ein „massives“ Handelsabkommen mit Japan angekündigt hatte.

Gaza: Über 100 Hilfs- und Menschenrechtsorganisationen, darunter Ärzte ohne Grenzen, warnten davor, dass sich in Gaza eine „Massenhungersnot“ ausbreite.

USA: Justizministerin Pam Bondi teilte Trump im Frühjahr mit, dass sein Name in den Akten von Jeffrey Epstein auftauche, sagten drei mit dem Gespräch vertraute Personen.

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Klima: Der Internationale Gerichtshof veröffentlichte eine scharf formulierte Stellungnahme, wonach Staaten verpflichtet sind, ihre Bevölkerung vor der „existenziellen Bedrohung“ des Klimawandels zu schützen.

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Vereinigtes Königreich: Die Familien zweier britischer Staatsbürger, die im vergangenen Monat bei einem Flugzeugabsturz in Indien ums Leben kamen, erhielten laut ihrer Anwältin die sterblichen Überreste anderer Personen zugesandt.

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