Tag & Nacht


Manchmal rauscht Geschichte nicht in Museen oder verstaubten Archiven. Manchmal fließt sie leise. Unsichtbar. Direkt unter unseren Füßen. In Paris geschieht genau das – jeden einzelnen Tag. Wer morgens den Wasserhahn aufdreht, denkt an Kaffee, Zahnpasta oder die Dusche, die wach macht. Kaum jemand denkt an einen über hundert Jahre alten Tunnel tief unter Feldern, Wäldern und Vororten. Und doch beginnt genau dort die Geschichte dieses Wassers.

Der Aquädukt von Loing zählt zu diesen Bauwerken, die alles tragen und selbst kaum gesehen werden. Ein Monument ohne Fassade. Ein technisches Rückgrat der Hauptstadt. Nach monatelangen, aufwendigen Arbeiten öffnen sich nun wieder seine Schleusen. Fast beiläufig. Als wäre nichts gewesen.

Dabei steckt hinter dieser Wiederinbetriebnahme ein Kraftakt von 2,4 Millionen Euro, monatelanger Planung und einer Präzision, die man eher aus der Chirurgie kennt als aus dem Tiefbau.

Der Weg hinein beginnt unspektakulär. Keine große Tür, kein Besucherzentrum. Nur eine schmale Metallleiter. Ein paar Sprossen nach unten, dann noch ein paar. Die Luft verändert sich sofort. Kühler. Feuchter. Still. Und plötzlich steht man mitten in einem Tunnel, der seit mehr als einem Jahrhundert Wasser trägt.



Hier, im Inneren des Aquädukts von Loing, fließt ein Teil des Pariser Alltags.

Ganz ruhig.

Seit 1897.

Gebaut wurde dieses Bauwerk zwischen 1897 und 1900, zu einer Zeit, in der Paris rasant wuchs und sauberes Trinkwasser zur politischen wie gesellschaftlichen Frage wurde. Cholera und andere Seuchen hatten gezeigt, was auf dem Spiel stand. Wasser bedeutete Leben. Und Kontrolle über Wasser bedeutete Sicherheit.

Die Ingenieure jener Zeit entschieden sich für eine Lösung, die bis heute beeindruckt. Statt auf oberirdische Prachtbauten wie in der Antike setzten sie auf eine fast vollständig unterirdische Konstruktion. Der Aquädukt verschwindet im Boden, taucht nur gelegentlich in der Landschaft auf, etwa durch kleine Zugangsbauwerke mitten auf Feldern. Wer nicht weiß, wonach er sucht, läuft achtlos vorbei.

Und doch transportiert dieser unscheinbare Tunnel täglich rund 100.000 Kubikmeter Wasser. Das entspricht etwa vierzig olympischen Schwimmbecken. Jeden Tag. Ohne Pause. Ohne Applaus.

Alban Robin, Produktionsdirektor bei Eau de Paris, beschreibt es gern anschaulich. Man müsse sich eine unterirdische Wasserstraße vorstellen, sagt er. Eine echte Strömung, keine stehende Leitung. Das Wasser braucht rund 36 Stunden vom am weitesten entfernten Punkt nahe Nemours bis zum Reservoir von Montsouris im Süden von Paris.

Sechsunddreißig Stunden. Während oben das Leben pulsiert, arbeitet diese unsichtbare Maschine unbeirrt weiter.

Ist das nicht irgendwie tröstlich?

Der Aquädukt misst über 90 Kilometer. Ein Bauwerk dieser Länge altert nicht gleichmäßig. Manche Abschnitte zeigen sich erstaunlich robust, andere tragen deutliche Spuren der Zeit. Feine Risse in der Mauer. Kleine Abplatzungen. Nichts Dramatisches – noch nicht. Doch Wasser findet seinen Weg. Immer.

Alle vier Jahre begehen Teams von Eau de Paris den gesamten Aquädukt zu Fuß. Meter für Meter. Keine Drohnen, keine Abkürzungen. Menschen mit Stiefeln, Lampen und geschultem Blick. Sie prüfen jede Wand, jede Fuge. Eine Arbeit, die Geduld verlangt. Und Respekt.

Bei einer dieser Inspektionen wurden die Risse deutlicher. Die Gefahr bestand nicht in einem plötzlichen Einsturz, sondern in schleichenden Veränderungen der Wasserqualität. Infiltrationen von außen. Ein Risiko, das man in einer Millionenstadt nicht eingeht.

Also begann die Sanierung. Abschnitt für Abschnitt. Denn ein Bauwerk dieser Länge lässt sich nicht einfach abschalten. Paris braucht sein Wasser. Jeden Tag.

Benjamin Gestin, Generaldirektor von Eau de Paris, erklärt das Prinzip nüchtern. Man arbeite in Etappen, sagt er. Immer nur dort, wo es möglich ist. Immer mit dem Blick darauf, die Versorgung aufrechtzuerhalten. Ein logistisches Puzzle, das Präzision verlangt.

Die technische Lösung wirkt beinahe futuristisch im Vergleich zur historischen Hülle. In die bestehende gemauerte Struktur wurden riesige Rohre mit einem Durchmesser von zwei Metern eingesetzt. Aus PEHD, einem speziellen Kunststoff, der für Trinkwasser zugelassen ist. Flexibel, langlebig, dicht.

Eine Technik, die so zuvor noch nicht eingesetzt worden war. Alt trifft Neu. Stein trifft Kunststoff. Jahrhundert trifft Gegenwart.

Manche nennen es einen Eingriff am offenen Herzen. Und ganz ehrlich – das fühlt sich nicht übertrieben an.

Denn dieser Aquädukt ist mehr als nur Infrastruktur. Er ist Teil der Identität der Stadt. Paris zählt zu den wenigen Metropolen weltweit, die noch immer über ein eigenes Netz historischer Aquädukte verfügen. Während andere Städte längst vollständig auf moderne Rohrsysteme setzen, lebt hier ein Stück Ingenieursgeschichte weiter.

Unterirdisch. Bescheiden. Zuverlässig.

Die Wiederöffnung der Schleusen geschieht ohne großes Spektakel. Keine Reden, keine Bänder, kein Blitzlichtgewitter. Stattdessen Tests. Messungen. Proben. Die Wasserqualität wird geprüft, bevor sich erneut eine unterirdische Strömung in Bewegung setzt.

Und dann fließt sie wieder. Diese unsichtbare, geduldige Wasserstraße unter dem Pariser Becken.

Vielleicht liegt genau darin der Zauber dieses Ortes. Er fordert keine Aufmerksamkeit. Er drängt sich nicht auf. Und doch hängt so viel von ihm ab.

Wer denkt beim Händewaschen an Nemours? Wer beim Kochen an eine Reise von 36 Stunden durch dunkle Tunnel? Und doch verbindet genau dieses Wasser Land und Stadt, Vergangenheit und Gegenwart.

Ist das nicht ein stilles Wunder?

Der Aquädukt von Loing erinnert daran, dass Fortschritt nicht immer laut sein muss. Dass nachhaltige Lösungen oft jene sind, die über Generationen hinweg funktionieren. Und dass echte Meisterwerke manchmal dort liegen, wo niemand hinschaut.

Ganz tief unten.

Im Dunkeln.

Mit fließendem Wasser.

Ein Artikel von M. Legrand

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