Wenn Frankreich im Sommer scheinbar geschlossen an die Küste zieht, täuscht der Eindruck: Während die Autoroutes überquellen und Strände belagert werden, bleibt für Millionen der Rückzug ins Ferienidyll eine Illusion. Fast 40 Prozent der Französinnen und Franzosen verreisen nicht – nicht aus freien stücken, sondern weil sie es sich nicht leisten können. Der Blick hinter das sommerliche Postkartenidyll offenbart eine soziale Kluft, die in Frankreich seit Jahrzehnten besteht und mit der wirtschaftlichen Unsicherheit vieler Haushalte verknüpft ist.
Urlaub ist ungleich verteilt
Die Zahlen des Crédoc, ausgewertet vom französischen Observatoire des inégalités, zeigen ein scheinbar stabiles Bild: Etwa 60 Prozent der Bevölkerung waren im vergangenen Jahr mindestens einmal im Urlaub. Doch die Statistik verbirgt strukturelle Unterschiede. Denn wer mit einem monatlichen Haushaltseinkommen über 2.755 Euro lebt, fährt in 76 Prozent der Fälle in die Ferien – bei den unterdurchschnittlich Verdienenden sind es nur 42 Prozent. Die unterste Einkommensgruppe bleibt zu knapp 60 Prozent zu Hause. Noch gravierender: Bei einem Nettoeinkommen über 2.500 Euro pro Person liegt die Urlaubsquote sogar bei 97 Prozent.
Die Entscheidung, nicht zu verreisen, ist also selten freiwillig. Vielmehr verweist sie auf beschränkte Mittel, Unsicherheiten im Erwerbsleben oder strukturelle Benachteiligungen. Besonders betroffen sind Menschen mit Behinderung: Fast 40 Prozent von ihnen geben an, sich noch nicht mal eine einwöchige Auszeit leisten zu können – das sind beinahe doppelt so viele wie in der nicht-behinderten Bevölkerung. Hinzu kommen zusätzliche Barrieren wie fehlende barrierefreie Unterkünfte oder hohe Betreuungskosten.
Vom Reisen ausgeschlossen – auch im Alter
Auch bei den Rentnerinnen und Rentnern ist ein schleichender Rückgang der Reiseaktivität zu beobachten. Während Anfang der 2000er-Jahre noch über 84 Prozent dieser Gruppe verreisten, sind es heute nur noch 76 Prozent. Neben altersbedingten gesundheitlichen Einschränkungen spielen wirtschaftliche Gründe zunehmend eine Rolle – insbesondere für Menschen mit kleinen Pensionen. Die Pandemie hat diese Entwicklung verstärkt: Verunsicherung und Vorsicht gehen mit gestiegenen Lebenshaltungskosten einher, die auch im Ruhestand nicht spurlos bleiben.
Mehr als Erholung: Der soziale Wert der Ferien
Ferien sind nicht nur Erholung, sondern ein soziales und kulturelles Gut. Wer regelmäßig verreist, profitiert nicht nur körperlich, sondern auch psychisch. Der Ortswechsel wirkt sich positiv auf das Wohlbefinden aus, fördert familiären Zusammenhalt, soziale Teilhabe und oft auch den Bildungshorizont – besonders bei Kindern.
Die Abwesenheit solcher Erfahrungen kann zu einem Gefühl sozialer Ausgrenzung führen. Besonders Kinder aus Haushalten ohne Urlaubsreisen stehen nach den Sommerferien oft im Abseits, wenn Erlebnisse ausgetauscht werden. Diese symbolische Ausgrenzung wirkt früh – und verstärkt soziale Ungleichheiten im Bildungskontext. Auch Erwachsene empfinden zunehmend Scham, wenn sie keine Ferienerlebnisse vorweisen können. In manchen Fällen werden sogar fiktive Reisen „erfunden“, um nicht abzufallen.
Politische Handlungsspielräume
Die sozialen Ungleichheiten im Zugang zu Urlaub sind nicht neu – sie werden jedoch in einer Zeit wachsender sozialer Polarisierung wieder sichtbarer. Frankreich verfügt über ein Netzwerk an Förderinstrumenten, das theoretisch allen eine Auszeit ermöglichen soll: etwa über die Agence nationale pour les chèques-vacances (ANCV), die mit Arbeitgebern und Gebietskörperschaften zusammenarbeitet. Doch in der Praxis erreichen diese Mittel oft nicht die Bedürftigsten.
Ein Reformansatz könnte darin bestehen, den sogenannten tourisme social gezielt auszubauen – also Ferienangebote für Haushalte mit kleinem Einkommen, beispielsweise durch verbilligte Unterkünfte in staatlich geförderten Ferienanlagen. Auch lokale Förderprogramme könnten besser abgestimmt und sichtbarer gemacht werden. Manche Regionen fördern heute schon gezielt Urlaubsreisen für einkommensschwache Familien – doch das Angebot bleibt oft fragmentiert und unübersichtlich.
Ein weiteres Potenzial liegt in der Förderung von „nahen Ferien“ – also Kurztrips innerhalb der eigenen Region. Solche Angebote wären ökologisch sinnvoll, kostengünstiger und leichter zugänglich. Doch auch sie setzen eine gewisse Planungssicherheit und Mobilität voraus – Ressourcen, die nicht allen zur Verfügung stehen.
Nicht zuletzt muss der gesellschaftliche Diskurs verändert werden: Weg von der Vorstellung, dass Ferien ein privatwirtschaftlich zu organisierendes Luxusgut seien – hin zur Anerkennung, dass auch Erholung zur sozialen Teilhabe gehört. Denn in einer Gesellschaft, die Freizeit und Selbstverwirklichung zunehmend zur Norm erhebt, ist der Ausschluss von Ferien mehr als ein logistisches Problem – er ist ein Symbol für gesellschaftliche Ungleichheit.
Das Bild einer in Ferien vereinten Nation stimmt also nur teilweise. Die stillen Wohnungen und leeren Balkone im Sommer erzählen nur einen Teil der Geschichte – die strukturellen Barrieren, verdeckte Armut und der unsichtbare Verzicht von Millionen bleibt unter der Oberfläche verborgen.
Autor: P. Tiko
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