Sonne, Strand, Lavendelfelder – wer an den Süden Frankreichs denkt, hat meist ein ganz bestimmtes Bild im Kopf. Doch der Var, dieses Juwel an der Mittelmeerküste, birgt ein Geheimnis, das sich nicht auf den ersten Blick offenbart. Unter der glitzernden Wasseroberfläche ruht ein kulturelles Erbe, das tief in die Vergangenheit reicht – wortwörtlich. Antike Schiffswracks, versunkene Amphoren, rekonstruierten Routen aus der Römerzeit: Der Meeresboden vor der Küste des Var ist ein lebendiges Museum. Und das Beste daran? Teile davon sind sogar mit Schnorchel und Taucherbrille erreichbar.
Camarat 4: Ein Wrack, das Geschichte schreibt
Am 4. März 2025 wurde vor Ramatuelle, nahe des Cap Camarat, eine Entdeckung gemacht, die selbst erfahrene Archäologen ins Staunen versetzte. In einer Tiefe von 2.567 Metern – einem Punkt, den bislang kaum ein Mensch erreicht hatte – stieß die französische Marine auf das Wrack eines italienischen Handelsschiffs aus dem 16. Jahrhundert.
Der Fund wurde als „Camarat 4“ bekannt. Und er hat es in sich: Rund 200 verzierte Tonpichets aus ligurischer Produktion, versehen mit geometrischen und religiösen Motiven, sowie über 100 Teller lagerten dort unten wie in einer Zeitkapsel. Die extremen Bedingungen – Dunkelheit, gleichbleibende Kälte, fast kein Sauerstoff – konservierten das Schiff und seine Fracht auf erstaunliche Weise. Wer wissen will, wie Handel im Mittelmeerraum der Renaissance funktionierte, findet hier eine Antwort – in bisher unerreichter Tiefe.
Sardinaux: Céramique made in Provence
Weniger tief, aber nicht minder spannend liegt die „Sardinaux“-Fundstelle, rund 52 Meter unter der Wasseroberfläche bei Sainte-Maxime. 1986 wurde hier ein kleiner, flachbodiger Frachter entdeckt, vermutlich zwischen 10 und 12 Meter lang. Seine Ladung: 4.200 Keramikgefäße – hauptsächlich Schüsseln und Krüge – aus den Werkstätten von Fréjus.
Diese Entdeckung zeigt nicht nur, wie lebendig der regionale Handel in der frühen Neuzeit war, sondern gibt auch Aufschluss über das damalige Alltagsleben: Die Formen, Farben und Verzierungen der Fundstücke erzählen Geschichten von Gebrauch, Geschmack und Gepflogenheiten vergangener Jahrhunderte.
Das Magenta-Drama von Toulon
Anders gelagert, aber ebenso eindrucksvoll ist der Fall der „Magenta“. Diese 92 Meter lange Fregatte, gebaut 1861, sank 1875 nach einem Feuer – ausgerechnet im Hafen von Toulon. Was das Schiff so besonders macht, war seine Fracht: 2.080 punische Stelen und eine Statue der römischen Kaiserin Sabina, ausgrabungstechnisch hochbrisant, wurden aus Karthago mitgebracht.
Fast 120 Jahre lang lag dieser archäologische Schatz auf dem Meeresgrund, bis das Wrack 1994 wiederentdeckt wurde. Viele der Fundstücke konnten geborgen werden – einige sind heute im Louvre zu sehen. Ein tragischer Schiffbruch, der sich als archäologisches Glück entpuppte.
Geschichte zum Anfassen – oder besser: zum Abtauchen
Wer sich nicht in Rekordtiefen wagen will, kann im Var dennoch auf Tauchstation gehen. Mehrere sogenannte „sentiers sous-marins“, also Unterwasserlehrpfade, machen Geschichte im wahrsten Sinne des Wortes greifbar. Mit Maske, Schnorchel und Flossen ausgestattet, lassen sich hier an ausgewiesenen Stellen rekonstruierte Fundplätze und versunkene Bauwerke erkunden – ganz ohne Tauchschein.
Zwei Beispiele stechen besonders heraus:
- Olbia bei Hyères: Nur drei bis fünf Meter unter der Oberfläche lassen sich hier die Reste eines römischen Kais und einer sogenannten Tartane – ein kleines Handelsschiff – entdecken. Ideal für Familien und Einsteiger.
- Pointe du Bouvet: Hier erwartet Besucher eine nachgebildete römische Schiffsruine samt Amphorenladung. Eine Art Freiluftmuseum unter Wasser, das auch als Schulungsort für angehende Unterwasserarchäologen dient.
Diese Lehrpfade erfüllen gleich mehrere Funktionen: Sie machen Geschichte zugänglich, fördern das Umweltbewusstsein und wecken die Begeisterung für das kulturelle Erbe unter Wasser. Eine Mischung, die nicht nur Touristen begeistert, sondern auch pädagogisch wertvoll ist.
Vom Meeresboden ins Museum
Wem das Wasser zu kalt oder die Tiefe zu unheimlich ist, der findet an Land ebenfalls reichlich Gelegenheit, in die Vergangenheit einzutauchen. Allen voran im Archäologischen Museum von Saint-Raphaël, das in einer ehemaligen mittelalterlichen Kirche untergebracht ist. Die Ausstellung reicht von der Vorgeschichte bis zum Mittelalter, mit einem besonderen Fokus auf die Unterwasserarchäologie der Region. Amphoren, Alltagsgegenstände und Wrackteile – alles fein kuratiert und anschaulich präsentiert.
Eine Region, die tiefer geht
Die Riviera mag für viele das Synonym für Sommer, Sonne und Savoir-vivre sein. Doch der Var hat mehr zu bieten – viel mehr. Unter seiner Wasseroberfläche liegen Geschichten verborgen, die vom Glanz vergangener Epochen zeugen, vom Mut der Seefahrer, vom Handel über kulturelle Grenzen hinweg und von den Brüchen, die das Meer mit sich bringt.
Warum also nicht mal abtauchen – im wörtlichen wie im übertragenen Sinn?
Autor: C.H.
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