Tag & Nacht




Ein Haus aus Karton? Klingt erstmal wie ein schlechter Scherz aus dem Kindergarten. Doch im Morbihan, einer beschaulichen Region in der Bretagne, zeigt ein findiger Zimmermann, dass diese Idee ziemlich handfest ist – und vor allem: zukunftsweisend.

Nicolas Le Dirach, ein Mann mit Holz in den Händen und Visionen im Kopf, hat sein eigenes Heim 2022 nicht aus Stein, sondern aus Karton gebaut. Kein Witz. Seitdem hat er mit seinem Unternehmen „Maison Bois Carton 56“ ein kleines, aber wachsendes Öko-Bau-Imperium aufgezogen.

Und das Beste daran: Diese Häuser sehen nicht nur charmant aus, sie trotzen auch Wind, Wetter und Feuer – besser als manch traditioneller Neubau.


Wie hält Karton Wind und Wetter stand?

Der Schlüssel liegt in einem ganz besonderen Material: IPAC. Das steht für „Isolant Porteur Alvéolaire en Carton“. Übersetzt heißt das so viel wie: tragender, wabenförmiger Karton-Dämmstoff. Klingt technischer als es ist. Im Grunde handelt es sich um recycelten Karton, der in mehreren Schichten mit pflanzlichem Kleber verklebt wird. Dazwischen: Luftkammern, die wie kleine Thermoskannen wirken.

Damit diese Wände nicht bei der ersten Regenwolke einknicken oder Feuer fangen, bekommen sie noch eine Spezialbehandlung: eine feuerhemmende und wasserdichte Außenhaut, die den Karton schützt wie eine Hightech-Jacke bei Sturm.


Isolierung? Besser als Glaswolle

Wer jetzt denkt: „Naja, das kann doch niemals so gut isolieren wie Glaswolle oder Styropor“, der irrt gewaltig. Die IPAC-Paneele übertreffen konventionelle Dämmstoffe locker – sowohl in Sachen Wärmeschutz als auch in ihrer Fähigkeit, die Innenräume im Sommer kühl zu halten. Das bedeutet: dünnere Wände, mehr Wohnfläche und trotzdem weniger Heizkosten.

Schon mal darüber nachgedacht, wie viel Energie wir jährlich zum Fenster hinausheizen – nur weil unsere Häuser schlecht gedämmt sind? Genau da setzen die Kartonhäuser an. Nicht nur clever, sondern auch dringend nötig.


Fundamentlos glücklich: Bauen ohne Beton

Ein echter Clou der Bauweise liegt unter der Oberfläche – oder besser gesagt: darüber. Denn die Häuser stehen auf Metallpfeilern, nicht auf Betonfundamenten. Das schont den Boden, spart CO₂ und erlaubt, das Haus bei Bedarf einfach umzusetzen oder zu recyceln. Ein Haus zum Mitnehmen – fast wie beim Drive-in, nur deutlich nachhaltiger.

Wer in Zeiten der Klimakrise noch immer auf Beton schwört, sollte vielleicht einen Blick auf die Emissionsbilanzen werfen. Der Zementsektor allein verursacht rund 8 % der weltweiten Treibhausgasemissionen. Mit Karton auf Stelzen wird Bauen plötzlich leicht – im doppelten Sinne.


Ein Zuhause für die Zukunft

In der Bretagne sprießen bereits die ersten Siedlungen mit diesen Häusern aus dem Boden – oder besser: auf die Metallstelzen. Diese kleinen, kompakten Häuser verkörpern mehr als nur ökologische Baukunst. Sie erzählen eine Geschichte von Reduktion, von bewusstem Wohnen und von der Rückkehr zur Essenz: ein Zuhause, das schützt, aber nicht erdrückt.

Warum also nicht kleiner wohnen – und dafür größer denken?


Kartonhäuser als soziale Innovation?

Ein oft übersehener Aspekt dieser Bauweise ist ihre soziale Komponente. Kartonhäuser kosten weniger, verbrauchen weniger Ressourcen und lassen sich schneller errichten. Das macht sie besonders interessant für einkommensschwache Haushalte, junge Familien oder Alleinstehende mit ökologischem Gewissen.

Doch sind diese Lösungen wirklich skalierbar? Können sie auch in Städten, bei größeren Bauprojekten oder als Ersatz für konventionelle Sozialwohnungen funktionieren?

Die Antwort darauf wird entscheidend sein – nicht nur für die Bauwirtschaft, sondern auch für die soziale Gerechtigkeit im Wohnungsmarkt.


Der Mann hinter dem Karton

Nicolas Le Dirach ist kein Weltverbesserer im schicken Anzug, sondern ein bodenständiger Handwerker, der schlicht keine Lust mehr auf energiehungrige Neubauten hatte. Seine eigene Kartonhütte wurde zum Manifest – und zum Geschäftsmodell. Seitdem tüftelt er unermüdlich an neuen Varianten, testet Materialien und bringt Interessierte zum Staunen.

Ein Detail zeigt, wie tief sein Ansatz geht: Die IPAC-Paneele bestehen aus Kartonresten, die sonst in der Verbrennung gelandet wären. Durch ihre Wiederverwertung entsteht ein geschlossener Kreislauf – aus Müll wird Wohnraum. Aus Altpapier wird Heimat.

Für weitere Informationen: https://www.maisonboiscarton.com/


Karton contra Klimakrise

Natürlich sind Kartonhäuser kein Allheilmittel. Sie lösen nicht alle Probleme der Bauwirtschaft, geschweige denn den Klimawandel. Aber sie zeigen, dass es auch anders geht. Dass Innovation nicht immer hightech und millionenschwer sein muss. Manchmal reicht eine gute Idee, etwas Mut – und ein Haufen Karton.

Wer hätte gedacht, dass ausgerechnet ein Material, das wir täglich achtlos entsorgen, uns helfen könnte, das Bauen neu zu erfinden?


Zeit für einen Perspektivwechsel

Stellen wir uns vor: Statt Neubauten aus Beton und Stahl entstehen ganze Siedlungen aus Holz und Karton. Die Städte der Zukunft wären nicht nur energieeffizienter, sondern auch deutlich lebenswerter. Weniger Lärm, weniger Emissionen, mehr Natürlichkeit.

Ein Traum? Vielleicht. Aber eben einer, den wir bereits mit Händen greifen können.


Wie geht es weiter?

Die wachsende Nachfrage nach umweltfreundlichem und leistbarem Wohnraum öffnet die Tür für neue Baustandards. IPAC, Holzrahmenbau, modulare Bauweise – all das wird in den kommenden Jahren eine immer größere Rolle spielen. Vielleicht nicht morgen flächendeckend, aber sicher übermorgen.

Architektur, die Ressourcen spart, flexibel ist und gleichzeitig Lebensqualität schafft – wer würde da nicht einziehen wollen?


Und die Behörden?

Noch hinken viele Bauvorschriften und Genehmigungsverfahren der Realität hinterher. Alternative Baustoffe wie Karton werden skeptisch beäugt oder schlicht nicht berücksichtigt. Hier braucht es mutige Kommunen und moderne Regelwerke – sonst bleibt das Kartonhaus eine nette Anekdote statt einer echten Lösung.

Zum Glück gibt’s Pioniere wie Le Dirach, die zeigen: Das geht – und zwar ziemlich gut.

Von Andreas M. Brucker

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