Zwischen den Jahren wird es still im politischen Paris. Zumindest offiziell. Sitzungen werden vertagt, Reden nicht gehalten, Konflikte eingefroren. In Frankreich trägt diese politische Atempause einen Namen, der zugleich süßlich und spöttisch klingt: la trêve des confiseurs, der Waffenstillstand der Süßwarenhändler. Wer dahinter mittelalterliche Frömmigkeit oder religiöse Friedensgebote vermutet, liegt daneben. Der Ursprung dieser Redewendung ist politisch, erstaunlich modern – und er erzählt viel über das fragile Gleichgewicht von Macht, Öffentlichkeit und Ökonomie.
Die Nationalversammlung hat auch in diesem Jahr kurz vor Weihnachten ihre Arbeit unterbrochen. Was heute wie eine administrative Selbstverständlichkeit wirkt, war im 19. Jahrhundert eine bemerkenswerte Neuerung. Um sie zu verstehen, lohnt sich ein Blick zurück in eine Zeit, in der Frankreich politisch zerrissen war, gesellschaftlich erschöpft und institutionell auf der Suche nach sich selbst.
Das Jahr 1874 liegt nur wenige Schritte hinter zwei nationalen Traumata. Da ist zunächst die Niederlage gegen Preußen, mit Tausenden Toten und dem Verlust von Territorien. Kaum ist der Frieden unterzeichnet, folgt die Pariser Kommune, ein blutiger Bürgerkrieg zwischen revolutionären Parisern und der konservativen Regierung in Versailles. An deren Spitze steht Adolphe Thiers, Monarchist aus Überzeugung, Republikaner aus Notwendigkeit, ein Mann der Ordnung in einer Zeit des Chaos.
Die politische Landschaft ist entsprechend explosiv. In der Nationalversammlung dominiert eine Mehrheit, die mit der Republik fremdelt. Legitimisten träumen von der Rückkehr der Bourbonen unter dem Grafen von Chambord. Orléanisten setzen auf den Herzog von Orléans und verbinden konservative Politik mit wirtschaftlichem Liberalismus. Bonapartisten schließen sich an, aus Furcht vor der Linken. Drei rechte Strömungen, vereint im Misstrauen gegenüber allem, was nach Republik klingt.
Doch draußen im Land verschiebt sich etwas. Bei Nachwahlen gewinnen die Republikaner an Boden, Stimme um Stimme. Die monarchistische Mehrheit beginnt zu bröckeln. Nach drei Jahren provisorischer Regierung steht eine Grundsatzentscheidung an. Frankreich braucht stabile Institutionen, Regeln, vielleicht sogar etwas, das man vorsichtig Verfassung nennen könnte. Die Debatten darüber sind hitzig, werden öffentlich geführt, sind emotional aufgeladen. Man streitet nicht nur über Paragrafen, sondern über die Zukunft des Landes.
Und dann, kurz vor Weihnachten 1874, geschieht etwas Unerwartetes. Die Abgeordneten einigen sich darauf, die Beratungen über die Feiertage auszusetzen, bis nach Neujahr. Ein politischer Waffenstillstand. Offiziell, um die aufgeheizte Stimmung abzukühlen. Inoffiziell, um dem Handel nicht zu schaden. Niemand wollte, dass politische Grabenkämpfe die Kauflust der Bevölkerung trüben. Weihnachten war – und ist – ein ökonomisch sensibler Moment.
Die Presse reagiert prompt und mit feiner Ironie. Sie nennt diese Pause la trêve des confiseurs. Wer den Ausdruck zuerst benutzt, ist nicht überliefert. Aber er trifft einen Nerv. Er suggeriert, dass die Politik für Zuckerbäcker und Konditoren Ruhe hält, dass Abgeordnete lieber Naschwerk konsumieren als Gesetze schmieden. Ein Seitenhieb, der sitzt. Besonders bei den Monarchisten um den Herzog von Broglie, die sich als Hüter der Moral verstehen und in dieser Wortwahl eine subtile Kritik an ihrem „Regime der Ordnung“ wittern.
Dabei hat die Metapher einen realen Kern. Paris ist bereits damals ein Magnet für Weihnachtstouristen. Jahrmärkte und Buden verkaufen Bonbons, kandierte Früchte, süße Versprechen. Die Stadt leuchtet, während im Parlament das Licht gedimmt wird. Die Vorstellung, dass sich Abgeordnete in dieser Zeit dem guten Leben hingeben, gehört zum politischen Folklore-Inventar. Ein bisschen Neid schwingt mit, ein bisschen Spott. So ist das nun mal.
Doch die Pause ist nicht nur süß, sie ist taktisch. Beide Lager nutzen die Unterbrechung, um Kräfte zu sammeln, Unterstützer zu mobilisieren, Strategien zu schärfen. Hinter den Kulissen wird gerechnet, gezählt, gehofft. Der politische Kampf ruht nicht, er verlagert sich. Man könnte sagen: Er zieht sich einen Wintermantel an.
Im Januar flammt er mit neuer Wucht auf. Der Höhepunkt folgt am 30. Januar 1875, als die Nationalversammlung mit einer einzigen Stimme Mehrheit das sogenannte Wallon-Amendement verabschiedet. Ein unscheinbarer Satz, der Geschichte schreibt. Der Präsident der Republik soll von Senat und Abgeordnetenkammer gewählt werden, für sieben Jahre, mit der Möglichkeit der Wiederwahl. Mehr braucht es nicht, um Frankreich endgültig in die Dritte Republik zu führen.
Plötzlich erscheint die trêve des confiseurs in einem anderen Licht. Nicht als Zeichen von Schwäche oder Bequemlichkeit, sondern als Moment des Innehaltens vor einer Richtungsentscheidung. Eine Pause, die Raum schafft für Klarheit. Vielleicht sogar für Vernunft. Politik, so zeigt diese Episode, braucht manchmal Abstand, um voranzukommen. Oder, um es weniger feierlich zu sagen: Manchmal hilft ein bisschen Zucker, damit die bittere Medizin besser runtergeht.
Heute wird der Begriff meist routiniert verwendet, fast schon beiläufig. Parlamente schließen, Ministerien fahren herunter, das politische Leben verlangsamt sich. Doch die historische Tiefenschärfe dieser Redewendung erinnert daran, dass solche Pausen nie neutral sind. Sie spiegeln Machtverhältnisse, gesellschaftliche Erwartungen und wirtschaftliche Interessen. Damals wie heute.
Bleibt die Hoffnung, dass die aktuelle trêve des confiseurs mehr hervorbringt als ein paar zusätzliche Pfunde auf den Hüften der Abgeordneten. Dass sie Ideen reifen lässt, Kompromisse vorbereitet, Blockaden löst. Die Geschichte zeigt: Es ist nicht ausgeschlossen. Manchmal entscheidet sich die Zukunft eines Landes genau zwischen den Jahren, irgendwo zwischen Marzipan und Mandarine.
Andreas M. Brucker
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