Es klingt fast wie eine Anekdote aus einem überforderten Schulalltag, wie man sie sich abends beim Wein erzählt – doch für eine Mutter im nordfranzösischen Lys-lez-Lannoy war es bitterer Ernst. Ihre Tochter, Sechstklässlerin an einem Collège nahe Roubaix, hatte im gesamten Schuljahr 2022/2023 zu wenig Französischunterricht. Und das nicht etwa, weil sie geschwänzt hätte – sondern weil der Lehrer schlichtweg fehlte. Wochenlang. Monatelang. Am Ende: fast ein Drittel der Stunden fielen einfach aus.
Der Staat? Wurde nun zur Kasse gebeten.
Ein Urteil mit Signalwirkung – gesprochen Ende November vom Verwaltungsgericht in Lille. Die Richter erkannten auf „organisatorisches Versagen“ des französischen Bildungssystems und verpflichteten den Staat zur Zahlung von 970 Euro – 470 Euro für den konkreten Lernverlust, 500 Euro für den moralischen Schaden.
Ein symbolischer Betrag? Vielleicht. Doch das Urteil ist in seiner Klarheit ein Paukenschlag.
Der Hintergrund: Der reguläre Französischlehrer war aus gesundheitlichen Gründen das ganze Jahr über abwesend. Das kann vorkommen, zumal der Beruf heute alles andere als stressfrei ist. Doch die eigentliche Misere begann mit dem Versuch, ihn zu ersetzen. Die Schulbehörde in Lille versicherte während der Gerichtsverhandlung zwar, man habe bereits im Dezember 2022 nach Ersatz gesucht – doch auch die eingesetzten Vertretungslehrkräfte fielen aus. Krank, überfordert, anderweitig verhindert.
Am Ende summierten sich die Fehlstunden auf 55 – von 162. Ein Drittel des regulären Unterrichts in einer der zentralen Fächer des französischen Bildungssystems: Französisch. Lesen, Schreiben, Sprachgefühl – all das, was der junge Geist in dieser Lebensphase aufsaugen soll, blieb auf der Strecke.
Die Richter blieben in ihrem Urteil sachlich, aber deutlich: Die Schülerin habe „notwendigerweise Rückstände und Lücken in den obligatorischen Lerninhalten“ erlitten. Und das sei ein unmittelbarer, klar nachweisbarer Schaden.
Man hört in Frankreich häufig den Satz: L’école républicaine, c’est le socle de notre société. Die republikanische Schule sei das Fundament der Gesellschaft. Und genau dieses Fundament gerät ins Wanken, wenn es in seinen Grundfesten bröckelt – wie hier.
Das Urteil trifft einen Nerv.
Denn längst ist der Lehrermangel in Frankreich kein Randphänomen mehr. Gerade in strukturschwachen Regionen – wie etwa dem Großraum Lille oder in Teilen der Banlieue um Paris – sind es oft die schwächsten Schüler, die als Erste durchs Raster fallen. Kinder, die vielleicht ohnehin wenig Rückhalt zu Hause erfahren. Für sie ist die Schule kein Ort des Lernens allein – sie ist Lebensanker, Sprachschule, Weltzugang.
Wenn dann aber über Monate kein Lehrer vor der Klasse steht, was bleibt dann noch vom republikanischen Ideal?
Man kann sich vorstellen, wie es für die Mutter gewesen sein muss: Woche um Woche zu hören, dass der Unterricht erneut ausfällt. Zu sehen, wie die Tochter das Interesse verliert, in einem Schlüsselalter, in dem Sprache nicht nur gelernt, sondern erlebt werden muss. Irgendwann hatte sie genug – und zog vor Gericht.
Und nun das Urteil. Die Symbolkraft liegt weniger im Geld, sondern in der Botschaft: Auch der Staat haftet. Nicht abstrakt, nicht theoretisch – sondern konkret, persönlich, in Euro und Cent.
Es ist ein Signal an all jene Eltern, die ähnliche Erfahrungen machen – in Lille, in Lyon, in Marseille. Und es ist ein Weckruf an ein Schulsystem, das vielerorts auf dem Zahnfleisch geht.
Denn natürlich hat auch Frankreich mit einem Mangel an Lehrkräften zu kämpfen. Die Ursachen sind vielschichtig: sinkende Attraktivität des Berufs, prekäre Arbeitsbedingungen, Bürokratie, Überlastung. Und nicht zuletzt: ein wachsendes Gefühl der Ohnmacht bei vielen Pädagogen, die zwischen Bildungsauftrag und Realität zerrieben werden.
Doch selbst wenn man diese Ursachen kennt, darf man die Folgen nicht hinnehmen.
Bildung ist kein Nice-to-have. Sie ist nicht verhandelbar. Sie ist ein Recht – und wer sie verweigert, muss Verantwortung übernehmen. Genau das ist nun passiert.
Vielleicht wird dieses Urteil nicht das System verändern. Aber es zeigt, dass Eltern nicht machtlos sind. Und dass man auch im oft so schwerfälligen Schulapparat etwas bewegen kann – wenn man dranbleibt.
Was aber bleibt für die Schülerin?
Ein verlorenes Schuljahr, zumindest in Teilen. Ein Stück Vertrauen, das sich nur schwer wiederherstellen lässt. Und vielleicht – ein erstes Gespür dafür, dass Gerechtigkeit manchmal doch durchkommt, wenn man sie sucht.
Autor: Andreas M. Brucker
Abonniere einfach den Newsletter unserer Chefredaktion!









