Die Vorstellung vom idyllischen Landleben in Frankreich ist tief verwurzelt: kleine Dörfer, ruhige Straßen, vertraute Gesichter. Orte, an denen man sich kennt, grüßt und noch selbst zur Bürgermeisterin oder zum Bürgermeister ins Büro spaziert, wenn es etwas zu besprechen gibt. Doch dieses Bild gerät ins Wanken. Der Drogenhandel, lange als urbanes Problem betrachtet, hat das französische Land erreicht – leise, beharrlich, mit einer Konsequenz, die vielerorts fassungslos macht. Was einst als Rückzugsort galt, wird zunehmend zur Bühne eines kriminellen Phänomens, das die Fundamente des gesellschaftlichen Zusammenhalts ins Wanken bringt.
Die Zahl der betroffenen Gemeinden steigt. Acht von zehn, heißt es in einer aktuellen Umfrage, seien inzwischen direkt oder indirekt mit dem Phänomen des Drogenhandels konfrontiert. Dabei geht es nicht mehr nur um Konsumverhalten oder den gelegentlichen Joint auf dem Sportplatz. Es geht um organisierte Strukturen, um mobile Vertriebswege, um Lieferdienste, die selbst abgelegene Weiler zuverlässig versorgen. Es geht um Kokain auf dem Dorf, um Strategien der Unsichtbarkeit, um ein Geschäft, das sich längst der klassischen Polizeiarbeit entzieht.
Die Bürgermeisterinnen und Bürgermeister dieser Gemeinden stehen vor einer Aufgabe, für die ihr Amt nie gedacht war. Sie sind die ersten, die es merken, die ersten, die angesprochen werden, die ersten, die etwas tun müssen – und doch oft die letzten, die tatsächlich Einfluss nehmen können. Die staatlichen Sicherheitsstrukturen sind auf die urbanen Brennpunkte ausgerichtet. Dörfer spielen in diesen Systemen nur eine Nebenrolle, wenn überhaupt. Die Polizei ist weit entfernt, die Gendarmerie überlastet, der Rechtsstaat langsam. So stehen die kommunalen Amtsinhaber in der Pflicht, ohne die nötigen Instrumente zur Verfügung zu haben.
Dabei ist der Wandel nicht nur ein sicherheitspolitisches Problem. Er trifft das Selbstverständnis der ländlichen Räume. Wenn der Drogenhandel auf dem Markt stattfindet, in der Nähe von Schulen oder Gemeindehäusern, dann verändert sich das soziale Klima. Das Vertrauen schwindet, die Lebensqualität sinkt, das Gefühl der Zusammengehörigkeit weicht einer Atmosphäre der Vorsicht. Wer etwas bemerkt, überlegt zweimal, ob er es sagt. Und wem man traut, entscheidet nicht mehr die Nähe, sondern die Rolle im Netz der Gerüchte.
Was die Situation besonders prekär macht, ist die Kombination aus struktureller Verwundbarkeit und politischer Vernachlässigung. Die ländlichen Räume waren in der französischen Sicherheitspolitik lange kein Thema. Fördermittel, Aufmerksamkeit, personelle Verstärkung – all das floss in die Städte, in die bekannten „zones sensibles“. Dörfer galten als stabil, als ruhig, als ungefährdet. Das war bequem – für den Staat wie für die Politik. Nun zeigt sich, wie kurzsichtig diese Einschätzung war.
Zugleich entfaltet der Drogenhandel auf dem Land eine besondere Dynamik. Die Räume sind weit, die Wege unübersichtlich, die soziale Kontrolle trügerisch. Wer liefern will, tut es diskret. Wer lagern muss, findet leerstehende Gebäude oder ungenutzte Flächen. Und wer verdient, hält sich zurück, um nicht aufzufallen. Es ist eine neue Unsichtbarkeit, die diese Entwicklung begleitet. Und eine neue Ohnmacht, die sie nährt.
Die Reaktionen der Kommunen sind vielfältig – und oft hilflos. Manche setzen auf bessere Beleuchtung, auf Überwachungskameras, auf sichtbare Präsenz. Andere versuchen, durch Sozialarbeit, durch Jugendarbeit, durch neue Allianzen gegenzusteuern. Es ist ein Kraftakt, der viel Engagement verlangt – und selten die gewünschte Wirkung entfaltet. Denn das eigentliche Problem liegt tiefer: Der Drogenhandel ist längst kein lokales Phänomen mehr. Er ist Teil eines nationalen, ja internationalen Marktes. Wer ihn bekämpfen will, braucht mehr als gute Absichten auf Dorfebene.
Die Rolle der Bürgermeister gerät dabei zunehmend in Schieflage. Sie sind gewählte Vertreter ihrer Gemeinde, verantwortlich für Straßen, Schulen, Kulturveranstaltungen – nicht für Razzien, Gefahreneinschätzungen oder verdeckte Ermittlungen. Doch genau das wird immer öfter von ihnen erwartet. Wer nicht reagiert, gilt als naiv. Wer es tut, steht schnell allein. Die Gefahr besteht, dass sie zwischen den Ebenen zerrieben werden – überfordert von Aufgaben, die ihnen nie zugedacht waren.
Dennoch gibt es eine Lehre, die aus all dem gezogen werden muss. Die ländlichen Räume Frankreichs sind keine Randzonen. Sie sind Teil der nationalen Wirklichkeit – in guten wie in schwierigen Zeiten. Und wenn sie sich verändern, dann betrifft das die ganze Republik. Die Reaktion auf den Drogenhandel auf dem Land kann daher nicht lokal bleiben. Sie muss staatlich getragen, politisch gewollt und gesellschaftlich verstanden sein.
Denn am Ende geht es nicht nur um Sicherheit. Es geht um Vertrauen. Um das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in ihre Institutionen, in ihr Dorf, in ihr Land. Wenn das verloren geht, bleibt vom ländlichen Frankreich nicht viel mehr als eine schöne Erinnerung. Und die hat in der Realität des 21. Jahrhunderts keinen Platz mehr.
Autor: Andreas M. B.
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