Tag & Nacht


Der Morgen beginnt in Lécousse mit einem Licht, das sich wie warmer Honig über die Dächer legt. Normalerweise starten die Leute von Nova Energie in genau dieser Stimmung in den Tag: ruhig, konzentriert, im Rhythmus eines kleinen Handwerksbetriebs, der seine Kundschaft gut kennt. Doch seit zwei Wochen liegt über allem ein grauer Schleier – Telefonklingeln im Dauerfeuer, genervte Stimmen, Vorwürfe, Hilfeschreie kurz vor dem Auflegen.

Ein Sturm, der aus dem Nichts kam.

Und der nicht einmal menschlich ist.

Die kleine bretonische Firma – spezialisiert auf Holzöfen und Photovoltaik – steckt plötzlich mitten in einem Albtraum, den niemand in diesem unscheinbaren Industriegebäude für möglich gehalten hätte.

Nicht einmal ansatzweise.

Denn am anderen Ende der Leitung, wo jemand vorgibt, ein „Berater“ zu sein, sitzt kein Mensch. Sondern eine Stimme, die aus einer Maschine stammt. Aus einer dieser neuen Systeme, die sprechen, pausieren und mit einer fast erschreckenden Überzeugungskraft Fragen stellen. Und das nicht nur einmal – sondern hundertfach, tausendfach, wie ein unermüdlicher Schwarm digitaler Mücken.


Cyrielle Belot hebt an diesem Vormittag schon zum dritten Mal innerhalb von zwanzig Minuten das Telefon ab. Ihr Blick verrät das, was die letzten Tage mit ihr machen: Müdigkeit, Frust, ein Funken Ratlosigkeit.
„Ja, guten Tag, Nova Energie, Cyrielle am Apparat.“

Die Antwort am anderen Ende ist jedes Mal ähnlich:
„Stellen Sie ab, dass Sie mich dauernd anrufen! Ich will nichts kaufen, gar nichts!“

Cyrielle erklärt geduldig – und ihre Stimme hat diese besondere Mischung aus Höflichkeit und innerer Anspannung:
„Ich verstehe Sie völlig, aber dieser Anruf stammt nicht von uns. Wir stecken selbst drin wie Sie.“

Bis zu dreißig solcher Gespräche täglich.

Manchmal mehr.

Wie reagiert man, wenn die eigene Stimme plötzlich durch Frankreich geistert, obwohl man gerade nur an seinem Schreibtisch sitzt, den Kaffee neben dem Bildschirm, und eigentlich nur seinen Job machen möchte? Wie bleibt man ruhig, wenn ein digitaler Doppelgänger wildfremde Menschen behelligt und einem dabei den Ruf ruiniert?


Christophe Baranger – ein echter Mitarbeiter aus Fleisch und Blut – erlebt das Unfassbare sogar persönlich.
Eines Abends klingelt sein privates Handy. Die Nummer unbekannt.
Ein Anrufer, der sich als Kollege ausgibt, redet sofort drauflos, wie ein Tonband, das nie gelernt hat zuzuhören. Fragen, Pausen, wieder Fragen. Kein Raum für eine Antwort.

Christophe runzelt die Stirn und denkt: Moment, das ist doch meine Firma… was geht denn hier ab?
Er lässt den „Kollegen“ reden. Und je länger diese künstliche Stimme plappert, desto deutlicher erkennt er die Fassade. Der Rhythmus stimmt nicht. Die Pausen sind zu regelmäßig. Der Ton ist beinahe perfekt – aber eben nur beinahe.

Diese winzigen Unregelmäßigkeiten verraten die Wahrheit.

Nova Energie ist nicht Opfer eines klassischen Datenlecks. Nicht Opfer eines Callcenters aus einem anderen Land. Nein – hier hat ein System die Identität der Firma schlicht nachgeahmt. Ein digitaler Imitator, der weder müde wird noch höflich ist und sich für nichts entschuldigt.


Der Effekt?
Der Schaden?
Er zieht wie eine Schockwelle durch das Unternehmen.

Maël Guibert, der Gründer, wirkt gefasst, doch seine Augen sprechen eine andere Sprache. Er zeigt auf den Bildschirm, wo neue Onlinebewertungen im Minutentakt auftauchen – negative Kommentare, Misstrauen, Ärger von Menschen, die glauben, Nova Energie betreibe aggressives Telefonmarketing.

„Da steht zum Beispiel: ‚Die rufen mich ständig an, Finger weg!‘“, erzählt er leise.
Er kennt diese Menschen nicht. Und doch muss er sich für etwas rechtfertigen, das er nicht tut.
„Ich hatte Kundinnen und Kunden, mit denen ich bereits Angebote plante. Sie melden sich jetzt und sagen, sie glauben uns das nicht mehr. Manche brechen alles ab. Und das tut weh, ehrlich.“

Ein kurzer Satz, der wie ein Stein ins Herz trifft:
„Die Vertrauensbasis ist bei einigen weg.“

Und Vertrauen – das ist in dieser Branche das täglich Brot.


Die Geschichte hat fast etwas Tragisches. Da kämpft eine kleine Firma darum, Menschen in ihren Häusern nachhaltige Energie zu ermöglichen, und irgendwo im digitalen Dschungel kopiert ein System ihre Identität und spuckt sie in tausend Stimmen wieder aus.

Ein Sturm aus Nullen und Einsen.
Ein Echo, das nichts mit der Realität zu tun hat.

Und dennoch alles beeinflusst.

Was geschieht, wenn Technologie nicht mehr als Werkzeug dient, sondern als Trickster in Erscheinung tritt? Wenn sie nicht unterstützt, sondern täuscht? Wenn sie sich so geschickt tarnt, dass selbst geschulte Ohren kurz zweifeln?


Die Ermittlungen laufen inzwischen bei der Anti Cyber Einheit in Rennes. Maël Guibert hat Anzeige erstattet. Ein Schritt, der notwendig ist, aber der Weg dorthin fühlte sich für ihn eher wie ein Marsch gegen Windböen an.
Denn was soll man eigentlich vorlegen?
Eine Stimme, die keine echte Stimme ist?
Ein Anruf, der nirgends eindeutig verortet werden kann?

Er schildert den Ermittlern das Problem, so gut es eben geht.
„Da draußen wird etwas in unserem Namen verkauft, das gar nicht von uns stammt“, erklärt er.
Und während er spricht, läutet schon wieder das Telefon.
Es wirkt fast symbolisch, als wolle die unbekannte KI sagen: Ich bin noch da.


Zwischen all dem Chaos bleibt dennoch diese eine alltägliche Szene:
Ein Kunde betritt das Büro.
Er schaut sich um, wirkt misstrauisch, fast angespannt.
„Sind Sie wirklich die Firma, die mich angerufen hat?“, fragt er.
Cyrielle hebt die Handflächen leicht an – eine instinktive Geste der Beschwichtigung.
„Nein. Das passiert überall gerade. Wir stecken genauso drin wie Sie.“

Der Mann atmet aus. Und genau in diesem Moment hängt das unsichtbare Problem wie ein grauer Vorhang zwischen ihnen. Vertrauen – es fühlt sich an wie ein dünner Faden, der jeden Augenblick reißen könnte.


Aber mitten in dieser Geschichte – die übrigens jeden treffen könnte, egal ob Café, Handwerksbetrieb oder Arztpraxis – steckt auch eine Erkenntnis:
Authentizität war noch nie so wertvoll wie heute.

Wir leben in einer Zeit, in der eine Stimme am Telefon täuschen kann wie ein Maskenbildner im Filmstudio. In erstaunlicher Perfektion.
Und während dieser Wandel faszinierend wirkt, rüttelt er gleichzeitig an einer tiefen menschlichen Sehnsucht: der Gewissheit, dass am anderen Ende ein Mensch ist, mit Herzschlag, Absichten und echten Worten.


Ein paar Mitarbeiter scherzen am Rande darüber – so, wie man eben über Dinge lacht, die eigentlich viel zu ernst sind.
„Wenn diese KI wenigstens Kaffee kochen würde“, meint einer mit einem schiefen Lächeln.
„Ja, oder Termine eintragen – dann wäre was los“, kontert ein anderer.
Ein kleiner Moment der Leichtigkeit, der zeigt, dass der Mensch selbst im Sturm seinen Humor nicht verliert.


Die eigentliche Frage bleibt trotzdem unverändert:
Wie schützt man sich künftig vor solchen digitalen Doppelgängern?
Und wie schafft man es, wieder glaubwürdig aufzutreten, wenn im Hintergrund noch immer ein unsichtbares Echo das eigene Firmenlogo missbraucht?

Man könnte meinen, eine Lösung läge längst in Sichtweite – irgendwas Technisches, ein Schutzmechanismus, ein digitaler Zaun. Doch die Realität ist komplizierter. Systeme, die künstliche Stimmen erzeugen, entwickeln sich so schnell, dass Schutzmaßnahmen ständig nachziehen müssen. Behörden arbeiten hart daran, Betrugsfälle zu verfolgen, aber die Spuren verlaufen oft durch internationale Serverlandschaften, VPN-Tunnel, automatisierte Verschleierung.

Es ist wie das Greifen nach einem Schatten im Sonnenschein.


Derweil versucht Nova Energie, sich über Wasser zu halten.
Es gibt gute Tage. Schlechte Tage. Und Tage, an denen sie fast den Mut verlieren.

Maël Guibert entscheidet, offen mit allen Kundinnen und Kunden zu sprechen, die sich bei ihm melden. Transparenz, sagt er, sei jetzt der einzige Weg.
Er führt ein Protokoll über jeden Vorfall, jeden Anruf, jede Beschwerde.
Nicht, weil er muss – sondern weil er etwas festhalten möchte in einem Chaos, das sich schwer greifen lässt.

Die Firma nutzt inzwischen Social-Media, die Website, sogar Aushänge am Eingang, um auf die Situation aufmerksam zu machen. Ein Schritt, der die Menschen erreicht – manche nicken verständnisvoll, manche entschuldigen sich sogar für ihren Ärger, nachdem sie die Hintergründe erfahren.

Und dann gibt es diese Momente der Menschlichkeit:
Eine ältere Dame ruft zurück, entschuldigt sich lang und warmherzig dafür, dass sie „so ruppig“ gewesen sei.
Cyrielle lächelt, als sie davon erzählt.
„Das tat richtig gut. Da merkt man, dass der Funke Menschlichkeit noch da ist.“


Ein anderer Kunde berichtet, dass auch er bereits von mehreren dubiosen Nummern angerufen wurde, und sagt:
„Lassen Sie sich nicht unterkriegen. Ich bleibe bei Ihnen. Mir tut’s leid, dass Sie das grad erleben müssen.“
Dieser Satz hebt die Stimmung im Büro merklich.
Es braucht manchmal nur eine Stimme – eine echte – um den Tag zu retten.


Und doch bleibt der Weg zurück in ruhigere Zeiten lang.
Der Ruf ist ein kostbares Gut.
Wenn er erst mal beschädigt ist, gleicht die Reparatur einer Restaurierung – man muss geduldig jede Schicht pflegen und die Kunden erneut spüren lassen, dass die Hand auf der anderen Seite des Geschäfts ganz real ist.

Die Menschen von Nova Energie arbeiten weiter, als würde über ihnen kein Sturm toben.
Sie beraten, planen Projekte, fahren zu Baustellen.
Ein bisschen Galgenhumor schwingt mit:
„Wir sind zwar überall gleichzeitig am Telefon, aber trotzdem real“, meint Christophe mit einem Augenzwinkern.
Diese Art Heiterkeit – sie wirkt wie ein kleiner Schutzschirm gegen die Absurdität der Lage.


Spät am Nachmittag, als der Lärm des Tages abebbt, sitzen einige Mitarbeiter noch zusammen. Sie sprechen über das, was passiert ist, darüber, wie verletzlich moderne Identität geworden ist. Und wie leicht eine fremde Stimme ihre eigene übertönen kann.

„Wer hätte gedacht, dass uns einmal eine Maschine kopiert?“, fragt eine Kollegin.
„Vor ein paar Jahren klang das wie Science-Fiction.“

Aber jetzt?
Jetzt ist es Teil ihres Alltags.

Ist das der Anfang einer neuen Ära, in der jede Identität schutzbedürftiger ist als je zuvor? Oder nur ein Ausreißer, ein schräger Vorfall in einer ansonsten funktionierenden digitalen Welt – ein Ding, das vorbeifliegt wie ein Schatten, der sich irgendwann verzieht?


Während die Sonne über Lécousse langsam verblasst, bleibt eines klar:
Die Menschen von Nova Energie kämpfen nicht nur gegen eine Täuschung, sondern um ihren guten Namen.
Ein Name, der mit ehrlicher Arbeit verbunden ist.
Mit echten Stimmen, echten Gesichtern, echten Händen.

Und vielleicht zeigt diese Geschichte, so verrückt sie klingt, vor allem eines:
Dass Echtheit ein Wert ist, der trotz aller technischen Wunder nicht imitierbar ist.

Ein Artikel von M. Legrand

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