Im vergangenen Monat wurde Brasiliens Ex-Präsident Jair Bolsonaro wegen der Planung eines Staatsstreichs verurteilt. Das Urteil: 27 Jahre Haft und ein lebenslanges Verbot, erneut für ein politisches Amt zu kandidieren.
Das hätte das Ende der Affäre sein können. Die Beweislast gegen Bolsonaro war ungewöhnlich erdrückend – der Putschplan lag sogar schriftlich vor.
Doch seither demonstrieren seine Anhänger regelmäßig. Einige Mitglieder des brasilianischen Parlaments diskutieren offen über ein Amnestiegesetz, um ihn begnadigen – was wiederum Gegendemonstrationen ausgelöst hat. Das Verfahren, wie ein Richter des Obersten Gerichts sagte, sollte „der Heilung von Wunden“, Brasiliens Gesellschaft bleibt jedoch von ihren Wunden schwer gezeichnet.
Der Prozess gegen Bolsonaro steht exemplarisch für ein Problem, mit dem Gerichte weltweit konfrontiert sind. Ihre Aufgabe ist es, das Recht durchzusetzen – nicht zuletzt im Dienste demokratischer Stabilität. Ein als neutral empfundenes Gericht kann verhindern, dass Konflikte in Gewalt oder Chaos münden.
Doch in einer Zeit tiefer gesellschaftlicher Spaltung und schwindenden Vertrauens in Institutionen verlieren selbst unabhängige Urteile ihre stabilisierende Wirkung. Mancherorts wirken sie sogar destabilisierend.
Brasilien, Frankreich, Türkei und andere
In jüngster Zeit wurden in einer Vielzahl von Ländern prominente Politiker strafrechtlich verfolgt: in Brasilien, der Türkei, Rumänien, Frankreich, Südkorea und den Vereinigten Staaten, um nur einige zu nennen. Auffällig dabei ist, wie ähnlich diese Verfahren wahrgenommen werden – unabhängig vom jeweiligen Grad der richterlichen Unabhängigkeit.
In der Türkei wurde der Istanbuler Bürgermeister Ekrem İmamoğlu wegen Korruption und Terrorismus verhaftet – just in dem Moment, als er sich als ernstzunehmender Herausforderer von Präsident Recep Tayyip Erdoğan etablierte.
In Frankreich wurde die rechtsextreme Oppositionsführerin Marine Le Pen der Veruntreuung schuldig gesprochen und von der Teilnahme an der Präsidentschaftswahl 2027 ausgeschlossen. Umfragen zufolge hätte sie gute Chancen gehabt, Präsident Emmanuel Macron zu schlagen.
In internationalen Rankings der richterlichen Unabhängigkeit rangiert Frankreich weit vor der Türkei – ein Land, in dem Erdoğan seit Langem beschuldigt wird, den Staatsapparat zur Ausschaltung politischer Gegner zu instrumentalisieren. Doch die Reaktionen auf die jeweiligen Urteile klingen nahezu identisch:
„Wir erleben einen Putschversuch gegen unseren nächsten Präsidenten“, sagte der Vorsitzende der größten türkischen Oppositionspartei.
Die französische Demokratie sei „hingerichtet worden“, klagte ein Vertrauter Le Pens.
In einer derart polarisierten Atmosphäre fällt es vielen schwer, zwischen politisch motivierter Justiz und unabhängigen Urteilen, die lediglich ein missliebiges Ergebnis liefern, zu unterscheiden.
Gerichte als Brandbeschleuniger der Spaltung
Ivan Krastev, Politologe und einflussreicher Denker zum Thema demokratischer Rückschritt, stellt gegenüber der New York Times fest, dass viele Wähler weltweit inzwischen jede Wahl als Entscheidung über das Überleben der Demokratie ansehen. Vor diesem Hintergrund würden auch Gerichtsurteile gegen führende Kandidaten durch ein zutiefst politisches Prisma betrachtet – was die Polarisierung weiter befeuert.
Dabei war die Idee unabhängiger Gerichte ursprünglich gerade dazu gedacht, sich nicht von politischem Kalkül oder öffentlicher Meinung leiten zu lassen. Doch dieses Prinzip verfolgt letztlich ein Ziel: die Bewahrung einer resilienten Demokratie.
Krastev argumentiert: Wenn ein Urteil die politische Lage erheblich destabilisiert, dann dürften Gerichte das nicht ignorieren. Wenn die gesellschaftlichen Folgen eines Wahlausschlusses, einer Unwählbarkeit, gravierender seien als das geahndete Vergehen, müsse das Urteil dies womöglich reflektieren. Das bedeute keineswegs Straflosigkeit – aber es erfordere eine Abwägung zwischen Gerechtigkeit und sozialer Stabilität.
Dieser Zielkonflikt ist nicht neu. In vielen Ländern – darunter Brasilien – wurden Amnestien für politische Straftaten bereits als Mittel zur Befriedung eingesetzt. Weniger diskutiert wird diese Frage jedoch bei Delikten wie Veruntreuung oder Korruption. Doch auch in solchen Fällen stellen sich heikle Fragen: Wann ist eine Person prominent genug, dass ein Verfahren politische Sprengkraft hat? Welche Straftaten wiegen so schwer, dass Milde keine Option ist?
Für viele Richterinnen und Richter ist der Gedanke, solche Überlegungen anzustellen, inakzeptabel. Nancy Gertner, ehemalige US-Bundesrichterin und heute Professorin an der Harvard Law School, warnt vor einem „gefährlichen Dammbruch“.
Verlorenes Vertrauen in die Justiz
Letztlich, so Krastev, sei die wahrgenommene Politisierung der Justiz ein weiteres Symptom einer tiefer liegenden Krise der Demokratie. In den USA, wo Präsident Donald Trump die zahlreichen Verfahren gegen ihn als politische Hexenjagd darstellte, ist das Vertrauen in die Justiz auf ein historisches Tief gefallen – nur noch 35 Prozent der Bevölkerung halten sie für glaubwürdig.
Wenn Richter ebenso spalten wie die Politiker, über deren Verfehlungen sie urteilen, steht nicht weniger als das demokratische Fundament zur Disposition.
Israel stoppt Hilfskonvoi für Gaza
Die israelische Marine hat gestern mehr als ein Dutzend Boote gestoppt, die als Teil einer internationalen Flottille humanitäre Hilfe nach Gaza bringen wollten. Laut den Organisatoren wurden über 150 Aktivisten festgesetzt, rund 30 weitere Schiffe seien noch unterwegs in Richtung der abgeriegelten Küstenenklave.
Unter den Teilnehmern befanden sich prominente Persönlichkeiten wie Greta Thunberg und Mandla Mandela, ein Enkel von Nelson Mandela. Frühere Versuche, Gaza auf dem Seeweg zu erreichen, waren gescheitert – ein Boot wurde sogar von Schüssen getroffen.
Israel beschränkt seit Beginn des Kriegs vor fast zwei Jahren den Zugang humanitärer Hilfe zum Gazastreifen stark. Infolge dessen verzeichnen Hilfsorganisationen Rekordwerte bei Mangelernährung. Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz erklärte gestern, es müsse seine Einsätze in Gaza-Stadt aufgrund der anhaltenden israelischen Offensive einstellen. Ein US-israelischer Friedensplan sieht vor, dass „sofort umfassende Hilfe“ geliefert werden soll – sobald ein Abkommen mit der Hamas zustande kommt. Diese hat sich bisher nicht zu dem Vorschlag geäußert.
Zum Tod von Jane Goodall
Jane Goodall wurde in den 1960er Jahren weltberühmt durch ihre Beobachtungen des Verhaltens wilder Schimpansen in Ostafrika. Ihre jahrzehntelange Arbeit als Umweltschützerin machte sie zur Ikone des Naturschutzes.
Gestern starb sie im Alter von 91 Jahren in Kalifornien.
Goodall war die Erste, die dokumentierte, dass Schimpansen Fleisch essen und Werkzeuge verwenden – Erkenntnisse, die das Verständnis von Primaten revolutionierten. In einem Interview mit der New York Times sagte sie einmal: „Wir Menschen waren sehr arrogant zu glauben, wir seien so grundlegend anders.“
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Autor: P. Tiko
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