Der 12. Dezember 2015 fühlte sich an wie ein erlösendes Aufatmen. In Paris einigten sich 195 Staaten auf ein gemeinsames Versprechen: Die Erderwärmung sollte deutlich unter zwei Grad bleiben, möglichst bei 1,5 Grad. Diplomaten umarmten sich, Aktivisten weinten, Politiker sprachen von einem Wendepunkt. Die Welt schien für einen Moment in dieselbe Richtung zu schauen.
Zehn Jahre später liegt dieser Moment hinter uns wie ein vergilbtes Foto im Familienalbum. Man erinnert sich gern daran, aber man erkennt auch die Risse am Rand.
Der Geist von Paris lebt noch. Doch er humpelt.
Ein Vertrag, der Geschichte schrieb
Das Pariser Abkommen markierte einen Bruch mit der Vergangenheit. Erstmals verpflichteten sich nahezu alle Staaten, Klimaschutz als gemeinsame Aufgabe zu begreifen. Keine starre Lastenteilung mehr, keine Blockade zwischen Industrie und Schwellenländern. Stattdessen nationale Klimapläne, Transparenzregeln, regelmäßige Überprüfung. Ein diplomatisches Kunstwerk, filigran und bewusst flexibel.
Diese Flexibilität galt damals als Stärke. Sie öffnete Türen, die zuvor verschlossen blieben. China zog mit, Indien ebenso. Selbst Staaten, die jahrelang gebremst hatten, unterschrieben. Paris wirkte wie ein globaler Handschlag.
Doch genau hier liegt der Kern des Problems.
Ein Handschlag ersetzt keinen Vertrag mit Durchsetzungsfähigkeit.
Die Temperatur kennt keine Diplomatie
Während seither in Konferenzsälen um Formulierungen gerungen wurde, stieg draußen das Thermometer weiter. 2023 und 2024 brachen Hitzerekorde – 2025 wird nicht besser -, die Ozeane heizten sich auf, Gletscher zogen sich zurück wie scheue Tiere. Inzwischen liegt die Erde gefährlich nah an der 1,5 Grad Marke. Manche Wissenschaftler sprechen bereits von einem faktischen Überschreiten im mehrjährigen Mittel.
Das klingt technisch, fast harmlos. In der Realität bedeutet es Dürren, die Ernten vernichten. Überschwemmungen, die Städte lahmlegen. Hitze, die Menschen tötet. Keine Zukunftsmusik, sondern Nachrichtenlage.
Wie oft lässt sich ein Warnsignal ignorieren, bevor es zur Katastrophe wird?
Selbst wenn alle aktuell eingereichten nationalen Klimapläne vollständig umgesetzt würden, steuert die Welt auf deutlich über zwei Grad Erwärmung zu. Das Pariser Ziel rückt in die Ferne, nicht weil es falsch formuliert war, sondern weil der politische Wille dahinter zu oft verdunstete.
Fortschritt, der leise bleibt
Und doch wäre es billig, von einem Scheitern zu sprechen. Paris veränderte die Welt, nur nicht so schnell, wie es nötig gewesen wäre.
Erneuerbare Energien erlebten einen historischen Boom. Solarstrom zählt in vielen Regionen zu den günstigsten Energiequellen überhaupt. Windparks wachsen aus dem Meer, Batterietechnologien entwickeln sich rasant. Elektromobilität verließ seine Nische, zumindest in Teilen der Welt. Investoren sprechen heute selbstverständlich über Klimarisiken, etwas, das 2015 noch exotisch klang.
In Europa sanken die Emissionen spürbar. Auch in den USA und China zeigen sich Phasen der Stabilisierung. Wirtschaftswachstum und CO₂-Ausstoß entkoppelten sich stellenweise. Das sind keine Nebensächlichkeiten.
Aber sie reichen nicht.
Der globale Ausstoß bleibt hoch, fossile Subventionen fließen weiter, neue Öl und Gasprojekte entstehen. Der Fortschritt wirkt wie ein gut gemeinter Dauerlauf, während die Uhr gnadenlos tickt.
Politik zwischen Ambition und Angst
Klimapolitik entfaltet ihre Wirkung nie im luftleeren Raum. Sie kollidiert mit Wahlzyklen, Energiepreisen, geopolitischen Krisen. Die vergangenen zehn Jahre lieferten reichlich davon.
Der doppelte Rückzug der USA aus dem Abkommen beschädigte Vertrauen. Washington kehrte zurück und stieg wieder aus, und das Signal blieb hängen. Klimapolitik wirkte plötzlich reversibel. Auch andere Staaten nutzten diese Unsicherheit als Ausrede, um Tempo herauszunehmen.
In Europa entzündeten sich Debatten an Heizungen, Autos, Landwirtschaft. Klimaschutz geriet in den Ruf, Wohlstand zu gefährden. Populistische Stimmen griffen das dankbar auf. Dabei ging es selten um Physik, oft um Identität und Angst vor Veränderung.
Kann ein Abkommen stark sein, wenn seine Umsetzung vom politischen Wetter abhängt?
Geld, das fehlt, und Vertrauen, das schwindet
Ein besonders wunder Punkt bleibt die Klimafinanzierung. Industrieländer versprachen, ärmere Staaten mit jährlich 100 Milliarden Dollar zu unterstützen. Dieses Ziel erreichte die Staatengemeinschaft spät und unvollständig. Für Anpassung an Klimafolgen, für Schäden und Verluste reicht das Geld ohnehin nicht.
Für viele Länder des globalen Südens wirkt Paris deshalb wie ein Vertrag mit kleingedruckten Hoffnungen. Sie leiden oft am stärksten unter Extremwetter, tragen jedoch historisch kaum Verantwortung. Ohne verlässliche finanzielle Unterstützung fällt es schwer, ambitionierte Klimapolitik durchzuhalten.
Hier entscheidet sich viel. Vertrauen zählt im Klimaschutz fast so viel wie Technologie.
Die Wirtschaft denkt um – langsam, aber spürbar
Abseits der großen Gipfel vollzieht sich ein stiller Wandel. Unternehmen kalkulieren CO₂-Preise ein. Versicherungen bewerten Klimarisiken neu. Städte planen hitzeresiliente Stadtviertel. Das alles geschieht selten aus Idealismus, meist aus nüchterner Risikoabwägung.
Der Markt entdeckt das Klima.
Das eröffnet Chancen, birgt aber auch Gefahren. Ohne klare politische Leitplanken droht Greenwashing. Ohne soziale Abfederung drohen neue Ungleichheiten. Paris lieferte den Rahmen, doch er bleibt leer, wenn Staaten ihn nicht füllen.
Eine Dekade, die entscheidet
Die Jahre bis 2035 gelten unter Forschern als entscheidend. Was jetzt an Emissionen nicht vermieden wird, lässt sich später kaum kompensieren. Technologische Hoffnungen auf sinkende Emissionen ersetzen keine Reduktion im Hier und Jetzt.
Das Pariser Abkommen lebt von seiner Dynamik. Alle fünf Jahre sollen Staaten ihre Ziele nachschärfen. In der Praxis fällt dieser Schritt oft zaghaft aus. Niemand möchte vorpreschen und Wettbewerbsnachteile riskieren. Ein klassisches Gefangenendilemma auf globaler Bühne.
Und doch zeigt die Geschichte: Wandel beginnt selten geschlossen, sondern mit Vorreitern.
Paris als Fundament, nicht als Abschluss
Zehn Jahre nach seiner Verabschiedung steht das Abkommen an einem Scheideweg. Es bleibt der einzige globale Rahmen, den es gibt. Ein Ersatz liegt nicht bereit. Wer Paris aufgibt, riskiert ein politisches Vakuum.
Gleichzeitig offenbaren sich seine Grenzen deutlich. Freiwilligkeit allein trägt nicht. Transparenz ohne Konsequenzen stumpft ab. Ambition ohne Umsetzung wirkt wie ein Sonntagsversprechen, nett gemeint, schnell vergessen.
Vielleicht liegt die größte Leistung von Paris darin, die Illusion der einfachen Lösung zerstört zu haben. Klimaschutz erfordert Konflikte, Verzicht, Investitionen. Er fordert Gesellschaften heraus.
Die Frage lautet nicht mehr, ob gehandelt wird, sondern wie entschlossen.
Ein nüchternes Urteil
Das Pariser Abkommen bleibt ein Meilenstein. Es schuf Sprache, Struktur und Richtung. Es mobilisierte Akteure weit über die Politik hinaus. Doch es bremste den Klimawandel nicht in dem Maße, das nötig gewesen wäre.
Zwischen Hoffnung und Realität klafft eine Lücke. Sie lässt sich schließen, aber nur mit mehr Mut, klareren Regeln und echter Solidarität. Paris liefert das Fundament. Das Haus darauf wirkt noch immer halbfertig.
Und draußen zieht bereits der Sturm auf.
Ein Artikel von M. Legrand
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