Tag & Nacht




Ein Video genügte.

Am 5. Juli sah Frankreich, was es lieber nicht sehen wollte: Gendarmen, die mit Messern ein Schlauchboot aufschlitzen. Ein Boot, das offenbar Migranten über den Ärmelkanal hätte bringen sollen. Ort des Geschehens: Pas-de-Calais.

Die Bilder sind verstörend. Nicht wegen der scharfen Klinge an weichem Gummi. Sondern wegen der Frage, die sie aufwerfen: Wo endet legitime Abschreckung, wo beginnt Unmenschlichkeit?

Die Taktik der Nadelstiche

Die französischen Behörden setzen auf Abschreckung.

Seit Monaten verschärfen sie in Kooperation mit Großbritannien ihre Grenzschutzmaßnahmen. Drohnen, Patrouillen, Sperranlagen – und nun auch durchstochene Boote. Die Logik dahinter klingt einfach: Kein fahrtüchtiges Boot, keine Überfahrt.

Doch diese Logik kratzt gefährlich am Fundament humanitärer Prinzipien. Denn beschädigte Boote sind nicht immer eindeutig unbrauchbar. Verzweifelte Menschen wagen dennoch den Aufbruch – mit fatalen Folgen.

Osmose 62: „Eine inhumane Praxis“

Die Organisation Osmose 62 nennt das Vorgehen inhuman. Sie weist auf die Risiken hin: Sollte ein solches Boot doch zu Wasser gelassen werden, droht der schnelle Untergang. Im Ärmelkanal, bei Wellengang und starker Strömung, endet das oft tödlich.

Andere Hilfsorganisationen stimmen ein. Sie fordern keine offene Grenze, sondern praktikable, legale Wege für Asylsuchende. Stattdessen sehen sie sich mit einer Sicherheitsstrategie konfrontiert, die Symbolkraft über Menschenwürde stellt.

Sicherheit als moralischer Drahtseilakt

Die französische Regierung steht unter Druck. Immer mehr Menschen versuchen, nach Großbritannien zu gelangen. Die Camps in Calais und Dunkerque platzen aus allen Nähten. Schleuser nutzen jede Lücke im System.

Doch Abschreckung allein schafft keine Lösungen. Sie verlagert nur Probleme. Wer kein intaktes Boot am Strand findet, sucht Schleuser mit schlechterem Material. Wer kein Schlauchboot findet, schwimmt. Jede zerstochene Luftkammer zwingt Menschen, noch riskantere Wege zu gehen.

Der Preis der Abschreckung

Niemand bestreitet die Notwendigkeit von Grenzschutz. Doch er darf nicht zur Demütigung Schutzsuchender verkommen. Europas Werte beruhen auf Rechtsstaatlichkeit und Menschenwürde – auch dort, wo sie unbequem sind.

Hier zeigt sich ein altes Paradox: Je härter ein Staat auftritt, desto größer wird der Markt für kriminelle Netzwerke. Und je gefährlicher der Weg, desto verzweifelter die Menschen, die ihn gehen.

Es braucht mehr als Messer an Gummibooten

Die Bilder aus Pas-de-Calais sind ein Spiegel. Sie zeigen, was Europa in der Migrationspolitik geworden ist: entschlossen, aber ratlos. Abschreckend, aber nicht lösungsorientiert. Effizient, aber nicht menschlich.

Eine nachhaltige Politik wird nicht an der Länge von Messerklingen gemessen, sondern an der Fähigkeit, legale Wege zu eröffnen, ohne die Kontrolle zu verlieren. Wer nur Boote zerstört, zerstört letztlich auch den Glauben an die Werte, die Europa groß gemacht haben.

Autor: Andreas M. Brucker

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