Tag & Nacht




Im Mai 1987 blickte die Welt nach Lyon. Dort, im Justizpalast am Ufer der Rhône, begann ein historischer Gerichtsprozess, der Frankreich nicht nur juristisch, sondern auch moralisch und emotional herausforderte: Klaus Barbie, einst Chef der Gestapo in Lyon und berüchtigt als der „Schlächter von Lyon“, musste sich vor der cour d’assises für seine Verbrechen während der deutschen Besatzung verantworten. Nicht irgendein Prozess – sondern der erste in Frankreich, der sich auf den Straftatbestand der Verbrechen gegen die Menschlichkeit stützte.

Fast 40 Jahre nach Kriegsende – warum erst jetzt? Diese Frage lag wie ein schwerer Schatten über dem Gerichtssaal.

Ein Angeklagter, der lieber schwieg

Der Angeklagte saß regungslos auf der Anklagebank, weigerte sich jedoch, an den meisten Verhandlungen teilzunehmen. Auf Anraten seines Anwalts Jacques Vergès – ein Mann, der ebenso provokant wie brillant war – verzichtete Barbie auf die Konfrontation mit seinen Opfern. Doch seine Abwesenheit wurde nicht als Schwäche interpretiert. Im Gegenteil: Viele empfanden sie als weiteren Akt der Verachtung gegenüber den Leidenden, als Fortsetzung seiner Grausamkeit mit anderen Mitteln.

Das Tribunal der Überlebenden

Was diesen Prozess so eindringlich machte, waren nicht nur die historischen Dimensionen – sondern vor allem die Stimmen derer, die überlebt hatten. Sie gaben dem Unvorstellbaren ein Gesicht, eine Stimme, eine zittrige Hand auf dem Rednerpult.

Da war Lise Lesèvre, eine Résistance-Kämpferin, die 1944 verhaftet und in der Montluc-Gefängniszelle gefoltert wurde. Ihre Worte über Barbie: „Er war keine Person. Er war eine Bestie.“ Die Torturen, die sie schilderte – Elektroschocks, Schläge, psychische Zerstörung – waren kaum auszuhalten.

Oder Simone Lagrange, die mit gerade einmal 13 Jahren in Barbies Fänge geriet. Ihre Kindheit endete in einem Verhörraum. Sie wurde geschlagen, erniedrigt, nach Auschwitz deportiert. Wer ihr zuhörte, spürte sofort: Es ging hier nicht nur um Gerechtigkeit – es ging um Würde.

Alice Vansteenberghe, Ärztin und ebenfalls Widerstandskämpferin, identifizierte Barbie zweifelsfrei im Saal. Sie berichtete von Verbrennungen, von körperlichen Narben, die nie verheilten – und von seelischen, die noch tiefer saßen. Eine Stimme, die trotz Zitterns aufrecht blieb.

Izieu – das unaussprechliche Verbrechen

Und dann war da Izieu.

Im April 1944 ließ Barbie 44 jüdische Kinder und ihre Betreuer aus der kleinen Waisenhaus-Kolonie Izieu deportieren. Keines der Kinder überlebte. Dieses Massaker, das den Anklagepunkt „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ besonders belastete, wurde zum moralischen Kern des Prozesses. Eine Zeugin, Edith Klebinder, berichtete über das abrupte Ende einer Kindheit, die nie hätte enden dürfen. Man hätte meinen können, das Publikum im Saal würde den Atem anhalten – aber es war ohnehin mucksmäuschenstill.

Der lange Weg zur Verurteilung

Die Justiz nahm sich Zeit – neun Wochen dauerte der Prozess, 145 Stunden Videomaterial wurden aufgezeichnet, 113 Nebenkläger traten auf, begleitet von rund 900 Journalisten aus aller Welt. Frankreich – ein Land, das sich jahrzehntelang schwergetan hatte, die Rolle von Kollaboration, Mitwisserschaft und Gleichgültigkeit aufzuarbeiten – sah sich im Spiegel.

Am 4. Juli 1987, nach mehr als sechs Stunden Beratung, wurde Barbie schuldig gesprochen – in 17 Fällen von Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Das Urteil lautete: lebenslange Haft.

Doch nicht das Strafmaß war das Entscheidende. Vielmehr war es die symbolische Bedeutung des Urteils – ein späte, aber klare Positionierung gegen das Vergessen.

Ein Land im Selbstgespräch

Frankreich war 1987 ein anderes Land als zur Zeit der Résistance – aber die Erinnerung an diese Epoche lag wie eine dünne Staubschicht auf jeder Institution. Der Barbie-Prozess blies diesen Staub weg. Er machte sichtbar, was viele lieber übersehen wollten: Dass die Täter nicht nur von außen kamen. Dass Schuld nicht verschwindet, nur weil man schweigt. Und dass Erinnerung eine aktive Aufgabe ist – unbequem, schmerzhaft, aber notwendig.

Der Prozess wirkte wie ein kollektives Gewissenstraining. Schülergruppen saßen im Gerichtssaal, Historiker diskutierten öffentlich im Fernsehen. Die Vergangenheit klopfte nicht mehr – sie trat die Tür ein.

Ein Vermächtnis, das bleibt

Die Wirkung des Prozesses reichte weit über das Urteil hinaus. In Frankreich führte er zu einem neuen Umgang mit der Vichy-Vergangenheit. Plötzlich war Raum für andere Prozesse – gegen Paul Touvier oder Maurice Papon. Der Barbie-Prozess war wie ein Dammbruch. Die Wahrheit floss – und sie spülte viele alte Lügen mit sich fort.

Bis heute bleibt der Fall Barbie ein Mahnmal. Nicht, weil er alles gelöst hätte. Sondern weil er gezeigt hat, wie schwer es ist, sich der eigenen Geschichte zu stellen – und wie wichtig.

Oder mal ehrlich: Wie wollen wir aus der Geschichte lernen, wenn wir sie nicht einmal aushalten?

Ein Editorial von C. Hatty

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