Was haben Zugverkehr und Störche gemeinsam? Auf den ersten Blick: nichts. Doch wer derzeit entlang der Bahnstrecke Dax–Bayonne in dem französischen Departement Landes unterwegs ist, könnte sich wundern – denn über 70 Storchennester thronen dort nicht etwa auf Bäumen, sondern direkt über den Köpfen der Züge auf den Masten der Stromleitungen.
Eine spektakuläre Szene – doch sie bringt auch Probleme mit sich.
Zwischen Vogelschutz und Bahnsicherheit
Die SNCF, Frankreichs staatliches Bahnunternehmen, steht vor einer ungewöhnlichen Herausforderung. Die Nester der Weißstörche, von denen jedes bis zu 500 Kilogramm wiegt, balancieren auf den empfindlichen Masten der Fahrleitungen der Strecke. Bei Wind oder starkem Regen könnten Teile der Nester auf die Gleise stürzen – mit möglicherweise fatalen Folgen für den Bahnverkehr. Außerdem sorgen die Vögel durch ihre Hinterlassenschaften für Verschmutzungen an der Technik und behindern notwendige Wartungsarbeiten.
Die direkte Gefahr für Menschen ist gering – aber für die Infrastruktur ist das Ganze ein echter Drahtseilakt.
Die Stars auf Stelzen: Weißstörche als VIP-Gäste
Was das Ganze noch komplexer macht: Der Weißstorch steht unter strengem Schutz. Diese imposanten Vögel mit ihren roten Schnäbeln und schwarzen Flügelspitzen waren vor einigen Jahrzehnten vom Aussterben bedroht. Heute erfreuen sie sich wieder wachsender Bestände – sehr zur Freude von Naturschützern, weniger zur Begeisterung der Bahntechniker.
Gemeinsam mit Ökologen und der Jagdvereinigung der Landes hat die SNCF begonnen, die Standorte der Nester genau zu erfassen. Besonders zwischen April und Juni, wenn die Vögel brüten, beobachten die Techniker regelmäßig das Treiben in den Nestern. Ziel: Eingriffe vermeiden – oder sie zumindest so planen, dass die Tiere keinen Stress erleben.
Der Plan mit den Plattformen – Und warum Störche ihn mögen
Weil man den Tieren nicht einfach die Wohnung kündigen kann, hat sich die SNCF etwas einfallen lassen: künstliche Nisthilfen. In sicherer Entfernung zu den gefährlichen Fahrleitungen wurden bisher elf Plattformen errichtet – acht davon haben die gefiederten Gäste bereits bezogen.
Ein beachtlicher Erfolg!
Insgesamt sollen es 70 solcher Plattformen werden. Der Preis für den friedlichen Kompromiss? Mehr als eine Million Euro. Aber was zählt, ist der Beweis: Technik und Tierwelt können sich – mit etwas Mühe – tatsächlich arrangieren.
Ein Balanceakt mit Vorbildcharakter?
So kurios die Situation wirkt, sie erzählt viel über unser Verhältnis zur Natur in einer hoch technisierten Welt. Infrastrukturprojekte müssen heute mehr sein als Beton, Kabel und Stahl. Sie brauchen Herz und Verstand – und manchmal auch ein bisschen Fantasie.
Wie oft stehen sich Umweltschutz und Fortschritt im Weg? In den Landes zeigt sich, dass es auch anders geht. Dass man beides denken kann. Dass man nicht immer „entweder oder“ sagen muss – sondern auch mal „sowohl als auch“.
Mehr als nur ein Bahnprojekt
Die Geschichte entlang der Bahnstrecke Dax–Bayonne ist ein Paradebeispiel für modernes Umweltmanagement. Keine Notlösung, kein Greenwashing – sondern ein echtes Miteinander. Auch wenn es auf den ersten Blick wie ein Konflikt wirkt, zeigt dieses Projekt, dass auch scheinbar widersprüchliche Interessen zusammenfinden können.
Von Daniel Ivers
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