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Wolodymyr Selenskyj kehrt an diesem Montag ins Weiße Haus zurück – ein halbes Jahr nach seiner frostigen Begegnung mit Donald Trump. Diesmal empfängt ihn nicht nur der US-Präsident, sondern auch eine Reihe europäischer Spitzenpolitiker, insbesondere Ursula von der Leyen. Friedrich Merz und Emmanuel Macron werden auch mit von der Partie sein. Eingeladen ist darüber hinaus Keir Starmer, dessen Teilnahme Stand jetzt jedoch noch nicht offiziell bestätigt ist. Dass die Präsidentin der EU-Kommission eigens nach Washington reist, unterstreicht die geopolitische Tragweite dieses Treffens: Die Ukraine bleibt das Schlüsselelement europäischer Sicherheit, auch in Zeiten veränderter Machtkonstellationen in Washington und Moskau.

Von Alaska nach Washington

Der Washington-Besuch Selenskyjs folgt unmittelbar auf das Gipfeltreffen zwischen Trump und Wladimir Putin in Alaska. Dort präsentierte sich der russische Präsident demonstrativ als gleichwertiger Gesprächspartner des US-Präsidenten – ein außenpolitisches Comeback, das in Moskau als Triumph gefeiert wird. Substanzielle Fortschritte brachte die Begegnung indes nicht: Ein Waffenstillstand, von Kiew wie auch von Brüssel gefordert, wurde von Russland strikt abgelehnt. Ebenso kategorisch verweigerte Putin jede Diskussion über territoriale Rückzüge.

Für Selenskyj bedeutet dies, dass er nach Washington reist, ohne greifbare Zugeständnisse Moskaus in der Hand zu haben. Im Gegenteil: Der Druck auf ihn wächst, eine Verhandlungsbasis zu akzeptieren, die zumindest implizit Grenzverschiebungen ins Auge fasst. Für die Ukraine aber sind solche Konzessionen verfassungsrechtlich wie politisch ausgeschlossen.

Die „Koalition der Willigen“

Einen Tag vor dem Treffen im Weißen Haus kamen die engsten Verbündeten Kiews in einer Videokonferenz zusammen. Emmanuel Macron, der britische Premierminister Keir Starmer, Friedrich Merz und Ursula von der Leyen stimmten ihre Positionen ab, flankiert von weiteren Vertretern der Nato und Kanadas. Diese sogenannte „Koalition der Willigen“ ist längst mehr als ein Symbol. Sie verkörpert die Bemühung Europas, trotz unterschiedlicher Interessen geschlossen aufzutreten – und zugleich in Washington als relevanter Akteur wahrgenommen zu werden.

Das Timing ist kein Zufall: Angesichts von Trumps unberechenbarem Kurs – der einerseits die militärische Unterstützung für die Ukraine in Frage stellt, andererseits als Vermittler zwischen Moskau und Kiew auftritt – will Europa verhindern, dass die Ukraine zum Spielball bilateraler US-russischer Verständigungen wird.

Differenzen über den Weg zum Frieden

Der Knackpunkt bleibt die Reihenfolge der Schritte. Während Trump nach dem Alaska-Gipfel signalisierte, dass ein Friedensabkommen auch ohne formellen Waffenstillstand denkbar sei, besteht Selenskyj darauf, dass jede Form von Friedenslösung erst nach einem Waffenstillstand erfolgen könne und mit klaren Sicherheitsgarantien für die Ukraine einhergehen müsse. Dazu gehören nicht nur westliche Garantien, sondern auch die Anbindung an die europäische und euro-atlantische Architektur. Moskau wiederum lehnt eine solche Absicherung kategorisch ab – sie würde den Status quo russischer Einflusszonen infrage stellen.

Hier offenbart sich ein tiefer Spalt in der internationalen Diplomatie: Soll man auf einen schnellen politischen Deal setzen, um die Kämpfe zu beenden, oder muss erst eine tragfähige Sicherheitsordnung definiert sein, damit ein Abkommen Bestand haben kann? Für Kiew und die meisten europäischen Hauptstädte ist klar, dass ein bloßer Waffenstillstand ohne langfristige Garantien lediglich eine Pause vor der nächsten Offensive wäre.

Europa zwischen Anpassung und Behauptung

Für die Europäer ist das Washingtoner Treffen auch ein Lackmustest. Sie stehen zwischen einem selbstbewussten Russland, das gestärkt auftritt, und einem amerikanischen Präsidenten, dessen außenpolitischer Kurs stärker von nationalen oder sogar von persönlichen Interessen und kurzfristigen Erfolgen geprägt ist als von strategischer Kontinuität.

Die Teilnahme von Ursula von der Leyen und Friedrich Merz signalisiert, dass Brüssel und Berlin nicht bereit sind, die Ukraine-Frage allein Trump und Putin zu überlassen. Gleichwohl wissen die Europäer um ihre begrenzten Mittel: Militärisch bleibt Kiew von US-Lieferungen abhängig, wirtschaftlich belasten steigende Energiepreise und Kriegsfolgen die Haushalte der Mitgliedstaaten.

In dieser Konstellation bedeutet europäische Diplomatie vor allem Schadensbegrenzung: die Einheit wahren, Selenskyj den Rücken stärken – und verhindern, dass Washington Entscheidungen über die Köpfe der Europäer hinweg trifft.

Zwischen Erwartung und Ernüchterung

Wenn Selenskyj am Montag ins Oval Office tritt, wird er vor allem zweierlei versuchen: Trump an die Verantwortung der USA für die Sicherheit Europas zu erinnern und gleichzeitig konkrete Zusagen zur Fortsetzung militärischer und finanzieller Unterstützung zu erhalten. Ob Trump dazu bereit ist, bleibt fraglich. Nach seiner Begegnung mit Putin scheint er eher auf den schnellen außenpolitischen Erfolg zu schielen, als auf die langfristige Stabilisierung Osteuropas.

Europa wiederum reist mit dem Anspruch nach Washington, als Partner auf Augenhöhe aufzutreten – doch die Realität zeigt, dass die großen Linien weiterhin in Washington und Moskau gezogen werden. Für Kiew bleibt deshalb der Balanceakt bestehen: auf westliche Rückendeckung zu setzen, ohne sich in Abhängigkeiten zu begeben, die seine strategische Handlungsfreiheit einengen könnten.

Am Ende könnte auch das Treffen in Washington weniger durch greifbare Ergebnisse in Erinnerung bleiben als durch seine Symbolik. Es markiert den Versuch, die Ukraine im Zentrum westlicher Solidarität zu halten – und zugleich die Struktur dieser Solidarität sichtbar zu machen.

Autor: P. Tiko

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