Tag & Nacht




Ein Weiler mit 76 Seelen, eingeschnürt zwischen Pinien, Dünen und der glänzenden Bucht von Arcachon.
L’Herbe wirkt wie gemalt – und steht doch im echten Leben.

Im Sommer kippt jedoch die Balance. Die Einwohnerinnen und Einwohner erleben, wie die Besucherzahlen explodieren, Gassen verstopfen und die feinsinnige Ruhe bröckelt. Wer hier ankommt, sucht Authentizität und heile Welt. Wer hier lebt, erlebt in der Saison vor allem Handy-Kameras, Müllkörbe und neugierige Blicke.

Bernard, 81, erzählt es ohne Pathos: „Ich schaute fern und sah einen Arm durch die Tür greifen – die wollten glatt bei mir rein.“
Ein Satz, der hängen bleibt.

Andere berichten von Fremden, die durch Fenster fotografieren, Gärten ablichten, Haustüren als Kulisse benutzen. „Wie im Zoo“, sagen manche – nicht aus Koketterie, sondern aus Müdigkeit. L’Herbe, das Dorf der farbigen Holzhütten und blumengesäumten Pfade, ist zur lebenden Postkarte geworden.

https://twitter.com/DanielAudet33/status/1838511972863598812

Die Anziehungskraft ist nachvollziehbar. Die bunten Cabins, das rhythmische Klacken von Austernkörben, die schmalen Wege, auf denen Sand und Salzwasser Spuren ziehen – das entwickelt einen Sog. Genau daraus nährt sich die Beliebtheit. Genau daran reibt sich der Alltag. Wenn der Besucherstrom anschwillt, bekommt L’Herbe jene Geräuschkulisse, die zwischen Lebensfreude und Lärm liegt. Die Schwelle ist schmal.

Zur sozialen Schieflage kommt eine strukturelle. Aus dauerhaften Wohnadressen entstehen Ferienadressen. Aus Nachbarschaften mit Handschlag entstehen lose Wechsel von Gesichtern, die drei, fünf, sieben Nächte bleiben und wieder verschwinden. Die Folge: weniger verfügbare Wohnungen für Menschen, die hier das ganze Jahr leben. Wer Kinder, Arbeit und Vereinsleben im Dorf bevorzugt, findet schwer ein Dach, das nicht zur nächsten Saison wieder „frei sein muss“.

Die Umwelt spürt die Überlastung ebenso. Wege leiden, Pflanzenflächen auch. Je später der Abend, desto eher bleibt etwas liegen, das nicht an den Strand gehört. Ein Dorf dieser Größe verdaut das nicht einfach so, sondern nur mit Mühe. An manchen Tagen trägt der Wind nicht nur den Geruch von Algen, sondern auch den leisen Ärger jener, die jeden Morgen als Erste aufräumen.

Dabei erzählt L’Herbe mehr als eine hübsche Küstengeschichte. Der Ort steht für ein Erbe aus Fischerei, Austernzucht, Handwerk und einer gelassenen, beinahe familiären Nähe im öffentlichen Raum. Wer auf den Stegen Austern probiert, bekommt nicht nur Geschmack, sondern eine besondere Kultur serviert. Und Kultur lebt von Rücksicht. Von Augenhöhe. Von dem kleinen, aber alles entscheidenden Moment, in dem man die Kamera senkt und den Blick hebt.

Was also tun?
Eine rhetorische Frage – und zugleich die drängendste.

Erste Antworten liegen auf der Hand. Eine Lenkung der Besucherströme, die Spitzen glättet, statt Türen zu schließen. Quoten für Besuche in den engsten Gassen – nicht als Abwehr, sondern als kluge Verkehrsregel. Klare Spielregeln für Kurzzeitvermietungen, damit aus Wohnraum nicht in großem Stil Durchlaufware wird. Informationspunkte am Ortseingang, die erläutern, wo öffentliches Leben endet und Privaträume beginnen. All das klingt nach Verwaltung, ist aber vor allem ein Service für alle: für Gäste, die das Besondere suchen, und für Bewohner, die es erhalten.

Dazu passt ein Tourismusstil, der das Wort „respektvoll“ ernst nimmt. Weniger Hop-on-hop-off, mehr Zeit, mehr Gespräche, mehr kleine Begegnungen. „Slow“ ist hier kein Marketing, sondern Notwendigkeit: Wer sich einlässt, verteilt die Last auf Stunden und in der Breite, statt sie zu bündeln. Wer in der Nebensaison kommt, entdeckt denselben Zauber – nur eben ohne Gedränge. Das Dorf dankt es, indem es sein leises, echtes Gesicht zeigt.

Die Regeln brauchen keinen erhobenen Zeigefinger. Ein kleiner Kodex am Dorfeingang reicht: Privatzonen respektieren. Keine Fotos durch Fenster. Keine Drohnen über Höfen. Müll wieder mitnehmen. Leises Staunen statt lautes Spektakel. Das liest sich schlicht, bewirkt aber viel. Es passt zu einem Ort, der von Gelassenheit lebt – und nicht von Einschränkungen.

Gleichzeitig hilft es, die innere Struktur zu stärken. Orte mit dauerhaftem Wohnen sind widerstandsfähiger. Wer in L’Herbe arbeitet, soll auch hier wohnen können – nicht zwei Orte weiter. Jede Wohnung, die dauerhaft bewohnt wird, stabilisiert Schule, Handwerk, Vereinsleben. Und sie bewahrt genau jene Alltagskulisse, die Gäste so mögen: Menschen auf den Wegen, Stimmen am Morgen, Licht in Fenstern – im Januar wie im Juli.

Auch Kommunikation zählt. Ein Hinweis am Strand, ein freundlicher Satz auf der Speisekarte, ein kurzer Dialog am Steg – das zieht Kreise. „Bonjour! Privé, merci.“ – „Ah, verstanden, wir gehen außen rum.“
So simpel, so wirksam.

Natürlich: Kein Konzept wird den Sommertourismus wirklich stoppen können. Ein solcher Ort am Meer bleibt ein Magnet. Aber L’Herbe muss nicht zum Freilichtmuseum werden, um beliebt zu bleiben. Es braucht ein paar klare Linien und Menschen, die sie mittragen – Gäste und Einheimische gemeinsam. Dann bleibt der Zauber des Ortes keine Ressource, die man aufbraucht, sondern eine, die man teilt.

Am Ende steht ein Bild, das gut zu L’Herbe passt: ein schmaler Holzsteg bei Flut. Wer sich drängt, fällt ins Wasser. Wer Rücksicht nimmt, kommt trockenen Fußes ans Ziel. Der Weg ist da – man muss ihn nur gehen.

M.A.B.

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