Mit einer beispiellosen Angriffswelle hat Russland in der Nacht auf den 7. September weite Teile der Ukraine bombardiert – allein auf Kiew wurden Hunderte Drohnen abgefeuert. Der Regierungssitz in der Hauptstadt wurde beschädigt, mindestens fünf Menschen starben. Der Angriff markiert einen neuen Eskalationsschritt in einem Krieg, der seit über drei Jahren den europäischen Kontinent erschüttert – und bei dem diplomatische Lösungen weiter außer Sicht bleiben.
Russlands bislang größte Luftoffensive seit Kriegsbeginn traf nicht nur militärische Infrastruktur, sondern auch symbolträchtige politische Gebäude. Besonders brisant: Der Angriff erfolgte nur wenige Tage nach dem Scheitern erneuter diplomatischer Initiativen unter Vermittlung der USA und unmittelbar nach einem Beschluss der „Koalition der Willigen“ zur Abschreckung Moskaus.
Regierungssitz als Ziel
Die ukrainische Luftwaffe spricht von der „größten Luftoffensive seit Beginn des Krieges im Februar 2022“. In der Nacht von Samstag auf Sonntag seien über 800 Drohnen und 13 Raketen aus Russland abgefeuert worden. In Kiew wurde nach Angaben der Premierministerin Ioulia Svyrydenko das Regierungsgebäude getroffen: Der Dachstuhl und mehrere Obergeschosse wurden beschädigt, Rettungskräfte seien stundenlang mit Löscharbeiten beschäftigt gewesen. Zwei Menschen kamen in der Hauptstadt ums Leben, darunter ein Kleinkind, 18 weitere wurden verletzt.
Auch in anderen Landesteilen wurde bombardiert – unter anderem in Dnipropetrowsk, Zaporischschja und der Grenzregion Sumy. Insgesamt meldeten die Behörden mindestens fünf Todesopfer.
Was diesen Angriff von früheren unterscheidet, ist seine symbolische wie taktische Qualität. Die gezielte Beschädigung des Regierungssitzes in Kiew stellt eine neue Eskalationsstufe dar. Die russische Seite behauptet, wie üblich, ausschließlich militärische und logistische Infrastrukturen angegriffen zu haben. Das ukrainische Narrativ sieht dagegen eine gezielte Terrorisierung der Zivilbevölkerung und eine bewusste Unterminierung staatlicher Strukturen.
Eine strategische Machtdemonstration
Was bezweckt Moskau mit einem derart massiven Angriff? Einerseits dient die Drohnenoffensive offensichtlich der strategischen Einschüchterung. Die gezielte Schwächung der ukrainischen Führungssymbole zielt darauf, die Handlungsfähigkeit des Staates zu untergraben – und internationale Unterstützung zu demoralisieren. Präsident Selenskyj bezeichnete die Angriffe als „gezielte Einschüchterung des ukrainischen Volkes“, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron sprach auf X von einer „Logik des Terrors“.
Andererseits demonstriert Russland seine technologische Anpassungsfähigkeit. Seitdem der Iran Russland mit tausenden sogenannter Shahed-Drohnen beliefert, hat sich deren Nutzung verstetigt und erweitert. Laut dem britischen Royal United Services Institute (RUSI) handelt es sich bei diesen Drohnenangriffen längst nicht mehr um improvisierte Guerilla-Taktiken, sondern um zentral orchestrierte Komponenten einer hybriden Kriegsführung.
Die hohe Zahl abgeschossener Drohnen – 747 laut ukrainischem Militär – belegt zwar die Wirksamkeit der ukrainischen Luftabwehr, doch auch deren Belastungsgrenze. Militäranalysten des Institute for the Study of War (ISW) warnen seit Monaten vor der „Zermürbungskapazität“ der russischen Drohnenoffensive. Das Ziel: Ressourcen binden, Abwehrkräfte erschöpfen und Schwachstellen aufdecken.
Diplomatisches Vakuum und militärische Festgefahrenheit
Die Angriffswelle fällt in eine Phase politischer Stagnation. Die jüngsten diplomatischen Bemühungen unter Vermittlung des US-Präsidenten Donald Trump sind ins Leere gelaufen. Auch wenn Trump angekündigt hat, bald nochmals mit Wladimir Putin sprechen zu wollen, bleibt ein substantieller Fortschritt aus. Russland lehnt einen Waffenstillstand weiterhin kategorisch ab – wohl nicht zuletzt, weil es faktisch bereits rund 20 % des ukrainischen Staatsgebiets unter Kontrolle hat und durch eine Deeskalation keine territorialen Vorteile erwarten könnte.
Gleichzeitig haben sich 26, überwiegend europäische Staaten am Donnerstag darauf verständigt, verstärkt Truppen zur Abschreckung an der NATO-Ostflanke zu stationieren – ein Signal, das in Moskau offenbar nicht unbeantwortet bleiben sollte. Insofern erscheint die Drohnenoffensive auch als Reaktion auf diesen Truppenbeschluss – als Versuch, die westliche Entschlossenheit auf die Probe zu stellen.
Ein unmittelbares militärisches Ziel verfolgte der Angriff offensichtlich nicht. Es gab keine nennenswerte Bewegung an den Frontlinien, keine begleitenden Bodenoffensiven. Vielmehr reiht sich der Angriff ein in die russische Strategie eines Krieges der Nadelstiche – kontinuierlich, brutal, medial wirksam.
Die jüngsten Angriffe auf Kiew markieren keine Wende, aber eine neue Qualität. Russland verlegt sich zunehmend auf symbolische Gewaltakte mit technologischer Wucht – nicht um militärische Siege zu erringen, sondern um den Glauben an eine funktionierende Ukraine zu unterminieren. Es ist eine Eskalation ohne Hoffnung auf Entscheidung – in einem Krieg, dessen Frontverläufe ebenso festgefahren sind wie die diplomatischen Perspektiven. Die ukrainische Widerstandsfähigkeit bleibt bemerkenswert – doch der Preis, den das Land dafür zahlt, steigt unaufhörlich.
Autor: Andreas M. Brucker
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