Frankreich steht an einem wirtschaftspolitischen Scheideweg – und mit Sébastien Lecornu übernimmt jetzt ein sehr junger Politiker das Amt des Premierministers. Nach dem Rücktritt von François Bayrou, der an der Verabschiedung des Haushaltsplans scheiterte, soll Lecornu nun das politische Gleichgewicht wiederherstellen. Die Erwartungen sind hoch – nicht nur in Paris, sondern auch in Brüssel und an den Finanzmärkten.
Der neue Premier tritt sein Amt inmitten multipler Herausforderungen an: Der Haushalt für 2026 muss unter Zeitdruck verabschiedet werden, die französische Energiepolitik steht vor einer Neuausrichtung, und die Industriepolitik verlangt nach strategischem Weitblick. Hinzu kommt die politische Zersplitterung in der Nationalversammlung, die ein pragmatisches Regieren erschwert.
Ein Haushalt unter europäischer Aufsicht
Das erste große Dossier auf Lecornus Schreibtisch ist der Staatshaushalt 2026. Nach dem Scheitern seines Vorgängers muss er nicht nur einen verfassungskonformen Entwurf vorlegen, sondern auch einen Plan, der Brüssel und die Märkte überzeugt. Frankreichs Haushaltsdefizit lag 2024 bei 5,5 % des BIP – deutlich über der von der EU erlaubten Marke von 3 %. Die EU-Kommission hat bereits ein Defizitverfahren eingeleitet, das Frankreichs fiskalische Handlungsfähigkeit langfristig beeinträchtigen könnte.
Hinzu kommt der drohende Druck der Ratingagenturen. Fitch, das Frankreich im Frühjahr 2023 auf „AA–“ herabgestuft hatte, kündigte eine Neubewertung noch vor Jahresende an. Eine weitere Herabstufung könnte die Refinanzierungskosten der Regierung deutlich erhöhen – ein Szenario, das Lecornu um jeden Preis verhindern muss. Der wirtschaftspolitische Spielraum ist also eng, während die politische Bühne wenig Stabilität bietet.
Energiepolitik zwischen Ambition und Realität
Frankreichs Energiepolitik ist ein klassisches Beispiel für den Zielkonflikt zwischen ökologischer Transformation und wirtschaftlicher Belastbarkeit. Lecornu, der aus dem Verteidigungsministerium kommt, muss nun energiepolitische Weichenstellungen vornehmen, die sowohl die Versorgungssicherheit als auch die Dekarbonisierung gewährleisten.
Die Kernenergie bleibt ein strategischer Eckpfeiler der französischen Energiearchitektur – rund 62 % des Stroms stammen aus Atomkraft –, doch der staatliche Ausbau erneuerbarer Energien verläuft schleppend. Solar- und Windkraft hinken den Ausbauzielen deutlich hinterher. Frankreich droht, seine Verpflichtungen im Rahmen des „Fit-for-55“-Pakets der EU zu verfehlen. Lecornu steht damit unter doppeltem Druck: Einerseits braucht er Investitionssicherheit für langfristige Infrastrukturprojekte, andererseits muss er kurzfristig steigende Energiepreise abfedern – besonders mit Blick auf Haushalte mit niedrigem Einkommen und die Industrie.
Reindustrialisierung als nationaler Imperativ
Die Renaissance der französischen Industrie zählt zu den erklärten Zielen der Macron-Regierung seit der Pandemie. Lecornu übernimmt in dieser Hinsicht ein strukturell herausforderndes Feld. Zwar konnte Frankreich zuletzt einige Investitionszusagen von Unternehmen wie Intel, ProLogium oder Northvolt einwerben, doch strukturelle Probleme – hohe Lohnkosten, komplexes Steuerrecht, Bürokratie – dämpfen weiterhin die Standortattraktivität.
Zudem muss der Premierminister die Transformation strategischer Branchen – etwa der Automobil-, Luftfahrt- und Pharmabranche – aktiv gestalten, ohne sich in sektoralen Einzelinteressen zu verlieren. Die „Planification écologique“, ein von Präsident Macron angestoßenes Industrieprogramm mit ökologischem Fokus, bietet einen Rahmen, der jedoch bislang eher als Ankündigung denn als konsistentes Maßnahmenpaket wahrgenommen wurde.
Regieren ohne Mehrheit
Die politische Dimension der Herausforderung ist nicht minder heikel. Seit dem Verlust der absoluten Mehrheit im Parlament im Jahr 2022 regiert das Lager Macrons nur noch mit relativer Mehrheit – was bedeutet: Jede Reform muss parlamentarisch erkämpft, jede Abstimmung verhandelt werden. François Bayrou scheiterte genau an dieser Realität.
Lecornu, der als loyaler Technokrat mit Verhandlungsgeschick gilt, muss nun unter Beweis stellen, dass er über die nötige Autorität und Flexibilität verfügt, um wechselnde Koalitionen über Parteigrenzen hinweg zu schmieden. Besonders kritisch wird die Haltung der konservativen Républicains, die sich in Haushaltsfragen zuletzt als unnachgiebig gezeigt haben. Auch die extreme Rechte und die radikale Linke nutzen jede Schwäche der Regierung zur eigenen Profilierung – was den Spielraum für Kompromisse zusätzlich einschränkt.
Ein Regierungssystem, das auf klare Mehrheiten angewiesen ist, wird in einer Phase struktureller Fragmentierung auf eine harte Probe gestellt. Lecornu muss nicht nur moderieren, sondern auch überzeugen – in einer politischen Landschaft, in der Vertrauen längst keine Selbstverständlichkeit mehr ist.
Eine heikle Mission in turbulenter Zeit
Sébastien Lecornu steht am Anfang einer Amtszeit, die mehr von außenpolitischem Druck und innenpolitischer Fragmentierung geprägt ist als jede vorherige seit der Finanzkrise. Die Handlungsfelder sind klar umrissen – doch der Erfolg wird sich an der Umsetzung messen lassen müssen. Gelingt es dem neuen Premier, wirtschaftliche Stabilität, ökologische Transformation und politische Konsensbildung zu verbinden, könnte er Frankreich wieder auf einen Pfad langfristiger Handlungsfähigkeit führen.
Scheitert er, droht dem Land nicht nur ein weiterer Regierungskollaps – sondern auch ein dramatischer Vertrauensverlust, der weit über die Börsenkurse hinausreicht.
Autor: P. Tiko
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