Tag & Nacht




Am 10. September 2025 erlebte Frankreich eine landesweite Protestwelle, die in Umfang und Ausdruckskraft Erinnerungen an die Bewegung der „Gilets Jaunes“ weckt. Unter dem Motto „Bloquons Tout“ („Blockieren wir alles“) mobilisierte ein dezentral organisiertes Kollektiv innerhalb weniger Wochen Hunderttausende. Die Bewegung richtet sich gegen die Sparpolitik der Regierung und steht exemplarisch für eine zunehmende Entkopplung zwischen politischer Elite und Teilen der Bevölkerung. Hinter den Blockaden verbirgt sich mehr als bloßer Protest – es geht um Grundsatzfragen des sozialen Zusammenhalts und der politischen Repräsentation in der Fünften Republik.

Austerität als Auslöser, Instabilität als Katalysator

Auslöser der Proteste war ein von der Regierung Bayrou vorgelegtes Sparpaket in Höhe von 43,8 Milliarden Euro für das Haushaltsjahr 2026. Zu den Maßnahmen zählen unter anderem die Streichung zweier gesetzlicher Feiertage sowie deutliche Kürzungen im öffentlichen Dienst. Die Maßnahme ist Teil eines fiskalischen Konsolidierungskurses, mit dem Frankreich auf die anhaltend hohe Staatsverschuldung und wachsenden Zinsbelastungen reagiert. Laut Schätzungen des französischen Rechnungshofs wird der Schuldenstand bis Ende 2025 mindestens 114 % des BIP betragen.

Doch die ökonomischen Motive allein erklären die Vehemenz der Reaktionen nicht. Die Regierung unter François Bayrou – der am 8. September nach einer verlorenen Vertrauensabstimmung in der Nationalversammlung zurücktrat – wurde von weiten Teilen der Bevölkerung als technokratisch und abgehoben wahrgenommen. Sein Nachfolger Sébastien Lecornu, zuvor Verteidigungsminister, hat das Kabinett bisher noch nicht umgebildet und sich bislang auch nicht explizit zu möglichen Änderungen am Sparkurs Bayrous geäußert. Dies facht die Empörung weiter an.

Dezentrale Organisation, radikale Forderungen

„Bloquons Tout“ ist ein loses Bündnis ohne erkennbare Hierarchie. Die Mobilisierung erfolgte weitgehend über soziale Netzwerke wie Telegram und X (ehemals Twitter), inspiriert durch ähnliche dezentrale Bewegungen wie die „Gilets Jaunes“ oder Occupy. Der Impuls ging zunächst von souveränistischen Gruppierungen aus, fand jedoch schnell Resonanz in linken, antikapitalistischen und ökologischen Kreisen. Auffallend ist die große inhaltliche Bandbreite der Forderungen: Sie reicht von klassischer Sozialpolitik („Mehr Mittel für Krankenhäuser und Schulen“) über demokratische Reformen bis hin zur Rücktrittsforderung gegenüber Präsident Emmanuel Macron.

Diese thematische Heterogenität kann als Stärke wie als Schwäche gelten. Einerseits erlaubt sie breiten gesellschaftlichen Gruppen, sich mit dem Protest zu identifizieren; andererseits erschwert sie eine klare strategische Ausrichtung. Bislang haben sich weder etablierte Gewerkschaften noch größere Oppositionsparteien dem Bewegungskern angeschlossen – wenngleich es punktuelle Solidaritätsbekundungen gab, etwa von La France Insoumise und einigen Regionalverbänden der CGT.

Ein Land im Ausnahmezustand

Die Aktionen am 10. September erfassten das gesamte französische Staatsgebiet. In über 130 Städten kam es zu Straßenblockaden, Betriebsbesetzungen und Demonstrationen. Besonders angespannt war die Lage in Paris, Lyon, Rennes und Nantes, wo es vereinzelt zu Gewalt und Auseinandersetzungen mit der Polizei kam. Laut Innenministerium wurden an diesem Tag insgesamt 473 Personen festgenommen; in mehreren Fällen wurden Barrikaden in Brand gesetzt, Busse beschädigt und Bahnhöfe zeitweise geschlossen.

Die Regierung reagierte mit einer massiven Mobilisierung der Sicherheitskräfte – über 80.000 Polizisten und Gendarmen waren im Einsatz. Innenminister Bruno Retailleau sprach am Tag danach von einem „begrenzten“ Störpotenzial: „Die Blockierer haben Frankreich nicht blockiert.“ Diese rhetorische Verharmlosung steht jedoch im Widerspruch zu Berichten regionaler Präfekturen, die teilweise erhebliche Verkehrsbehinderungen und Lieferkettenunterbrechungen dokumentieren.

Eine Gesellschaft auf der Suche nach politischer Sprache

Was „Bloquons Tout“ von klassischen Protestbewegungen unterscheidet, ist weniger die Methodik als die darunterliegende Motivation. In zahlreichen Interviews und Manifesten äußern sich Teilnehmende enttäuscht von der parlamentarischen Demokratie und desillusioniert von traditionellen Mitteln der Mitbestimmung. Der Soziologe Didier Fassin beschreibt dieses Phänomen als eine „Demokratie der Unterbrechung“ – eine Form des politischen Ausdrucks, die aus dem Gefühl der Exklusion erwächst.

Die Bewegung ist dabei nicht zwingend antidemokratisch, wohl aber antiinstitutionell. Sie fordert keine Abschaffung der Demokratie, sondern eine radikale Neugestaltung politischer Teilhabe. Die Krise des Vertrauens in etablierte Institutionen – vom Parlament über die Medien bis hin zur Justiz – ist dabei ebenso virulent wie die ökonomische Unsicherheit.

Hinzu tritt ein generationaler Bruch: Eine jüngere Generation, aufgewachsen mit Prekarität und Klimakrise, wendet sich zunehmend von repräsentativen Strukturen ab und sucht Ausdruck in direkter Aktion. Diese Entwicklung ist nicht auf Frankreich beschränkt – sie zeigt sich in ähnlicher Form in Deutschland (Letzte Generation), Großbritannien (Just Stop Oil) oder Spanien (Movimiento 15-M).

Zwischen Aufbegehren und Fragmentierung

Ob „Bloquons Tout“ eine nachhaltige politische Kraft werden kann, bleibt fraglich. Der – diesmal von den großen Gewerkschaften – angekündigte Aktionstag vom 18. September wird ein wichtiger Indikator dafür sein, ob die Mobilisierungsfähigkeit über den ersten Impuls hinaus anhält. Entscheidend wird sein, ob es gelingt, eine konsistente politische Sprache zu entwickeln – jenseits symbolischer Blockaden und punktueller Empörung.

Für die Regierung Lecornu stellt sich nun die Frage, ob sie auf Konfrontation oder Kooptation setzt. Eine Eskalation der Repression könnte den Protest verstärken; ein kluges Entgegenkommen – etwa in Form eines Sozialgipfels oder partizipativer Konsultationen – könnte hingegen zur Deeskalation beitragen.

Frankreich steht an einem Scheideweg. Die Auseinandersetzung um „Bloquons Tout“ ist kein isoliertes Ereignis, sondern Symptom einer tieferliegenden Strukturkrise: eines politischen Systems, das zunehmend Mühe hat, pluralistische Interessen zu integrieren. Die kommenden Wochen werden zeigen, ob dieser Protest in politische Erneuerung münden kann – oder in neue Frustration.

Autor: Andreas M. Brucker

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