Frankreichs politische Kultur ist geprägt von Konfrontation. Wo anderswo verhandelt wird, wird in Paris oft zugespitzt. In der Assemblée nationale trifft sich nicht selten Rhetorik mit Rivalität, Machtdemonstration mit parteipolitischem Kalkül. Währenddessen blicken viele Beobachter mit einer gewissen Bewunderung – oder auch Verwunderung – auf jene europäischen Nachbarn, in denen politische Gegensätze nicht zwangsläufig in Blockade oder Boykott münden, sondern in Koalitionen, Kompromissen und oft überraschend stabilen Regierungsformen.
Gerade Deutschland, Belgien und Portugal zeigen, dass demokratische Kultur nicht auf der Dominanz einer Seite, sondern auf der Fähigkeit zum Ausgleich fußen kann. In Frankreich hingegen erscheint der Kompromiss vielen als Schwäche, als Verrat an Überzeugungen, als Kapitulation. Doch diese Sichtweise greift zu kurz. Der europäische Vergleich legt nahe, dass Kompromiss vielmehr ein Zeichen von Reife ist – und ein Weg, die politischen Institutionen widerstandsfähiger, anschlussfähiger und letztlich auch bürgernäher zu gestalten.
Deutschlands föderaler Pragmatismus
Die Bundesrepublik Deutschland ist ein Paradebeispiel für eine funktionierende Kompromisskultur. Sie ist institutionell angelegt: Das föderale System zwingt zur Abstimmung zwischen Bund und Ländern, das parlamentarische Regierungssystem kennt fast nur Koalitionen. Die berühmten „Großen Koalitionen“ zwischen Christdemokraten und Sozialdemokraten, die in der Vergangenheit wiederholt das Land geführt haben, stehen exemplarisch für diese Fähigkeit, politische Differenzen nicht nur zu benennen, sondern auch zu überbrücken – und dies nicht im Ausnahmezustand, sondern als Ausdruck demokratischer Normalität.
Diese politische Kultur hat historische Ursachen. Nach dem Zweiten Weltkrieg war es das erklärte Ziel der deutschen Gründerväter, politische Extreme zu vermeiden und stabile Mehrheiten zu ermöglichen – nicht durch Machtkonzentration, sondern durch Machtverteilung. Der Bundestag, der Bundesrat, die Verfassungsgerichtsbarkeit und die Rolle der Parteien wurden so ausgestaltet, dass sie auf Zusammenarbeit und gegenseitige Kontrolle angewiesen sind. Das System diszipliniert, es kanalisiert Konflikte und fördert die Suche nach tragfähigen Lösungen. Nicht der Einzelne, sondern das Ensemble der Institutionen schafft Legitimität.
Belgien: Einheit durch Differenz
Noch ausgeprägter ist die Bedeutung des Kompromisses in Belgien – einem Land, das ohne diese Fähigkeit vermutlich längst zerfallen wäre. Die tiefen Gegensätze zwischen dem niederländischsprachigen Flandern und dem frankophonen Wallonien, zwischen föderalen und regionalen Kompetenzen, zwischen kulturellen Identitäten und politischen Loyalitäten machen Einheitslösungen nahezu unmöglich. Der berühmte „compromis à la belge“ ist daher weniger eine Stilfrage als eine Überlebensstrategie.
Man denke an den Schulpakt von 1958, der den erbitterten Streit zwischen kirchlichen und staatlichen Bildungseinrichtungen befriedete. Oder an den Kulturpakt von 1972, der sicherstellte, dass kulturelle Institutionen ideologisch breit aufgestellt sind. Diese Vereinbarungen entstanden nicht aus Harmonie, sondern aus der Notwendigkeit, die tiefen Risse des Landes institutionell zu stabilisieren. In Belgien ist es selbstverständlich, dass Regierungen Monate – mitunter Jahre – zu ihrer Bildung benötigen. Das mag ineffizient wirken, schafft aber langfristig tragfähige Strukturen, die den politischen Raum nicht verengen, sondern pluralisieren.
Portugals leiser Weg der Verständigung
In Portugal offenbart sich der Kompromiss weniger als strukturelles Erfordernis, sondern als politische Entscheidung. Besonders eindrucksvoll zeigte sich dies unter Premierminister António Costa, der mit seiner Minderheitsregierung jahrelang auf die Zusammenarbeit mit linksradikalen Parteien und Kommunisten setzte – ein Experiment, das viele Skeptiker anfangs belächelten. Doch es funktionierte. Nicht, weil man ideologische Differenzen ignorierte, sondern weil man sich auf Prioritäten verständigte, die das Gemeinwohl in den Vordergrund stellten.
Costa gelang es, mit dieser Methode politische Stabilität und soziale Reformen zu verbinden – ein Balanceakt, der Vertrauen aufbauen konnte, ohne das Regierungshandeln in Beliebigkeit verfallen zu lassen. Die portugiesische Erfahrung zeigt: Kompromiss muss nicht in technokratischer Mittelmäßigkeit enden. Er kann auch ein Instrument politischer Gestaltung sein – dann nämlich, wenn er mit klarem Ziel und bewusstem Dialog geführt wird.
Frankreich im Spiegel seiner Nachbarn
Verglichen mit diesen Modellen erscheint Frankreichs politisches System wie ein Kontrastbild. Die stark auf den Präsidenten zentrierte Fünfte Republik setzt auf klare Mehrheiten, auf Durchregieren statt Ausgleichen. Das Mehrheitswahlrecht begünstigt polarisierende Wahlkämpfe und reduziert die Notwendigkeit, sich mit konkurrierenden Positionen ernsthaft auseinanderzusetzen. Politische Auseinandersetzung ist hier oft konfrontativ, das Regierungshandeln top-down. Kompromisse werden nicht gesucht, sondern vermieden – oder, wenn sie unvermeidbar werden, hinter verschlossenen Türen vorbereitet und als „alternativlos“ verkauft.
Diese Haltung zeigt sich nicht nur auf institutioneller Ebene. Auch die politische Kultur – geprägt von Revolutionspathos, Klassenkampfmetaphorik und dem Mythos des starken Staates – steht einem Verständnis von Politik als Aushandlungsprozess oft entgegen. Parteien, die Kompromisse eingehen, riskieren den Vorwurf des Verrats. Medien und Öffentlichkeit verstärken diese Dynamik, indem sie Zuspitzung belohnen und Vermittlung oft als Schwäche interpretieren.
Doch der Preis ist hoch. In einem zunehmend fragmentierten politischen Spektrum, in dem keine Kraft mehr dauerhaft auf absolute Mehrheiten bauen kann, führt die Weigerung zum Kompromiss in die Blockade. Gesetzesprojekte scheitern, soziale Bewegungen eskalieren, das Vertrauen in die Institutionen sinkt.
Dabei könnte gerade Frankreich von einer Kultur des Kompromisses profitieren – nicht, um politische Unterschiede zu nivellieren, sondern um sie konstruktiv zu verarbeiten. Kompromiss bedeutet nicht, auf Überzeugungen zu verzichten, sondern anzuerkennen, dass in einer pluralistischen Gesellschaft keine Wahrheit exklusiv sein kann. Was es braucht, ist ein institutioneller Rahmen, der Kooperation belohnt, nicht bestraft; ein politisches Klima, das Verständigung fördert, nicht stigmatisiert.
Ein erster Schritt wäre, über eine Reform des Wahlrechts nachzudenken – etwa durch Elemente proportionaler Repräsentation. Ebenso wichtig wäre es, Mechanismen der Konzertation zu stärken – etwa durch ständige Kommissionen mit Sozialpartnern oder stärkere Einbindung lokaler Entscheidungsträger. Nicht zuletzt müsste sich das politische Selbstverständnis ändern: weg vom Präsidentiellen als Idealbild, hin zu einem demokratischen Miteinander, das sich am Gemeinwohl orientiert und nicht am kurzfristigen Sieg über den politischen Gegner.
In der Praxis wäre dies eine Schule der Geduld. Aber es wäre auch ein Weg, die französische Demokratie krisenfester und inklusiver zu machen. Denn was die Beispiele aus Deutschland, Belgien und Portugal zeigen, ist letztlich ein universelles Prinzip: Demokratie lebt nicht vom Durchsetzen, sondern vom Aushandeln. Nicht der Kompromiss ist das Problem – sondern seine Abwesenheit.
Von Andreas Brucker
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